Alltag im 18. Jh.

Anreden

 


Es wird oft gefragt, wie wer wen anzureden habe. Bislang haben wir nur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brauchbare Angaben. Diese deuten an, daß es "früher" (also vor der Mitte des 18. Jh.) anders war, aber auf wann sich dieses "früher" bezieht und inwiefern es anders war, das erfahren wir nicht. Auf jeden Fall ist das Thema ebenso Komplex wie das Geflecht sozialer Beziehungen, so daß es auf diese Frage keine einfache Antwort geben kann.

Heute glaubt man gemeinhin, "Er" sei die herablassende, ja leicht verächliche Anrede eines Höhergestellten gegenüber jemand viel tiefer stehendem ("Hebe Er sich hinweg!"), z.B. eines Fürsten gegenüber einem Bauern. Tatsächlich wäre ein Bauer, der von einem Fürsten geerzt wurde, verwirrt gewesen und hätte sich gefragt, ob der Fürst ihn verkohlen will: Im 18. Jh. ist "Er" (bzw. weiblich "Sie") eine höflichere Anrede als "Ihr" und nur eine Stufe unter dem Plural-"Sie", die damals höflichste Anrede.

Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war deutlich hierarchischer strukturiert als die heutige, und das spiegelte sich in den Anredeformen. Im deutschen Sprachraum waren vier Anredeformen üblich: Du (2. Person Singular), Ihr (2. Person Plural), Er/Sie (3. Person Singular) und Sie (3. Person Plural, dem heutigen Siezen entsprechend). Anders als im heutigen Sprachgebrauch war die Anrede nicht nur eine Frage der Intimität (Du) oder Distanz (Sie), sondern vor allem des sozialen Gefälles. Einem Japaner dürfte das Prinzip vertrauter sein als einem heutigen Deutsch sprechenden, denn im Japanischen spricht man noch heute mit einem sozial Höhergestellten anders als mit einem Tieferstehenden. Einen winzigen Abklatsch davon kann man noch erahnen, wenn man bedenkt, daß Erwachsene Kinder duzen, die Kinder die Erwachsenen aber siezen: Es ist das soziale Gefälle das Alters. Während wir heute unterschiedslos alle Fremden siezen, mußte man im 18. Jh. unterscheiden, ob der Andere einen geringeren, den gleichen oder höheren Rang als man selbst hatte. Um die Sache noch komplizierter zu machen, kommt es nicht nur darauf an, wie groß der Abstand auf der sozialen Leiter ist, sondern auch auf den absoluten Status: Während Gemeine, wenn sie verwandt oder gute Freunde sind, einander duzen, kennt man aus dem Briefen befreundeter Intellektueller oder verwandter Bürgerlicher das "Ihr", aber auch aus den Briefen der hochadeligen Liselotte von der Pfalz an ihre Verwandten, nicht nur an die jüngeren, sondern auch an ihre Tante, immerhin eine Kurfürstin.

Aber: Liselotte lebte zu Anfang des Jahrhunderts, und es gibt Hinweise darauf (siehe Gottsched in der Tabelle unten), daß das Ihr früher im Jahrhundert noch einen höheren Rang hatte als später. Es sieht so aus, als ob die Anreden im Verlauf des Jahrhunderts immer höflicher wurden, d.h. wer um 1700 noch geihrzt wurde, wurde gegen Ende des Jahrhunderts eher geerzt. Siehe Journal des Luxus und der Moden*** in der Tabelle unten: Der ehedem geduzte Knecht wird nun (am Ende des Jahrhunderts) geihrzt und zuweilen wird dem Bedienten, dem eigentlich nur das Ihr zusteht, die Ehre zuteil, geerzt zu werden. Eine ähnliche "Höherentwicklung" kennt man vom wib (Weib), das im Mittelalter noch eine neutrale Bezeichnung für einen weiblichen Homo Sapiens war, während frouwe (Frau) eine Adlige auszeichnete.

Es gibt also vier Kriterien, die bei der Wahl der Andrede zu bedenken sind:

Für die Bestimmung der korrekten Andrede ist es also unabdingbar, die Kriterien zu kennen, nach denen Personen in der sozialen Hierarchie verortet wurden: Elternhaus, Bildung, Beruf, Einkommen. Und, leider... bei Frauen waren es Elternhaus und Beruf/Einkommen des Vaters bzw. später des Ehemannes. Da ich hier nicht auf die multidimensionalen Komplexitäten sozialer Schichtung eingehen kann, beschränke ich mich auf allgemeine Regeln.

Plural und Indirektion

Eine Plural-Anrede gilt als höflicher als eine Singular-Anrede. Daher ist "Ihr" höflicher als "Du". Noch höflicher ist es, jemanden nicht direkt anzusprechen. In asiatischen Kulturen wird das noch heute sehr deutlich: Egal, ob es um die direkte Anrede oder um direkten Augenkontakt geht, beide stellen eine Durchbrechung der Individualdistanz und mithin einen Einbruch in die persönliche Sphäre dar. Im Japanischen z.B. sagt man, wenn man besonders höflich sein will, nicht "Du gehst" sondern man benutzt die Passivform, "Du wirst gegangen". Das erscheint einem Deutsch-Muttersprachler in der Übersetzung seltsam, aber der wichtige Aspekt ist: Das Passiv wirkt nicht direkt auf den Gesprächspartner, sondern macht einen Umweg, und darin besteht die Höflichkeit. Ein ähnliches Prinzip wirkt im Deutschen, nur daß uns das heute nicht mehr so klar ist: Jemanden in der 3. Person anzusprechen bedeutet eigentlich, ihn eben nicht anzusprechen, sondern quasi mit einer imaginären anderen Person über ihn zu sprechen. Mithin ist "Geht es Ihm gut?" höflicher als "Geht es Euch gut?". Daraus ergibt sich folgende Hierarchie der Höflichkeitsstufen:

2. Pers. sg. (Du) -> 2. Pers. pl. (Ihr) -> 3. Pers. sg. (Sie/Er) -> 3. Pers. pl. (Sie)

Wer extrem höflich sein will, z.B. einem Fürsten gegenüber, spricht den Anderen nicht einmal in der dritten Person an, sondern baut eine weitere Stufe der Indirektion ein. In diesem Fall kommen Worte wie "dero" oder "derselbe" ins Spiel, die eine besondere, noch indirektere Form der dritten Person darstellen: "Darf ich bei Dero Gnaden um Audienz ersuchen?"

Sozialer Abstand

Es hilft, wenn man sich die Hierarchie der Anredeformen als Leiter vorstellt: Ganz oben ist das fürstliche "dero", darunter das 3. pers. plural "Sie", darunter "Er/Sie", dann "Ihr" und schließlich "Du". Auf dieser Leiter sitzen die beteiligten Personen. Je weiter unten beide Beteiligte sitzen, desto eher werden sie einander duzen, wenn sie auf der gleichen Sprosse sitzen. Sitzt eine davon eine Sprosse höher, wird die untere Person (z.B. Magd) die höhere (Bäuerin) ihrzen, die höhere die untere duzen. Eine weitere Sprosse höher wird der Bauer den Wirt erzen, der Wirt den Bauern ihrzen, und dessen Magd duzen. Wieder eine Stufe höher wird der Wirt den Handwerksmeister erzen, der Meister den Wirt ihrzen und den Bauern duzen. Der Handwerksmeister wird andere Meister erzen, den Pfarrer und den Richter siezen, den Wirt ihrzen und den Bauern und seine Magd duzen. Und immer so weiter die Leiter hinauf, bis der Dichter den Denker siezt, es sei denn, die sind Freunde - dann ihrzen sie einander - oder richtig gute Freunde, dann duzen sie einander. Der Dicher wird, um die Extreme ins spiel zu bringen, vermutlich die Bauernmagd duzen und sie ihn siezen.

Da der Artikel aus dem Journal des Luxus und der Moden, der dies alles ausfühlich behandelt, inzwischen online abrufbar ist, spare ich mir detailliertere Ausführungen und lege jedem, der es genauer wissen möchte, die Lektüre desselben ans Herz.

Quellen

Wir haben einige Beispiele aus zeitgenössischen Texten gesammelt. Die frühesten Quellen sind die Briefe der Liselotte von der Pfalz, um 1680-1720. Diese sind zwar auf Deutsch geschrieben, aber die Dialoge der Kessel-Episode wurden sehr wahrscheinlich auf Französisch geführt. Ob Liselotte bei der Übersetzung das französische tu/vous-Schema beibehalten hat oder das du/ihr die deutsche Sprachrealität der Zeit wiedergibt, ist heute nicht mehr feststellbar. Es fällt allerdings auf, daß sie ihre Verwandten (Bruder, Tante, Nichte) ihrzt. Bei der Tante kann man das eher verstehen, ist sie doch 1.) Kurfürstin und 2.) der älteren Generation zugehörig. Daß sie auch ihren Bruder ihrzt, bestätigt, daß man höher auf der sozialen Leiter höflichere Anreden benutzt.
Für die Zeit zwischen 1720 und 1760 haben wir leider noch keine Beispiele gefunden. Wenn Ihr* mal wieder etwas aus der Zeit lest, markiert Euch bitte die Anreden und schreibt sie mir!

Quelle

Zitate bzw. Zusammenfassungen

Liselotte von der Pfalz in ihren Briefen

An ihren Bruder: "...alß ich Eweren ersten brieff entpfangen..." (1681)
An Kurfürstin Sophie von Hannover: "E[uer] L[iebden] haben woll groß recht..." (1706)
"Die verzehlt mir, wie sie ahn Einen fenster in ihren hoff Einen soldaten gesehen, [...] wie Er sie ahm fenster sieht, rufft Er, fraw wolt ihr Einen schönen kessel kauffen. Die Ratzenhauserin antwortet nein, du hast ihn vileicht gestolen [...] Eine halbe stundt hernach kommt die magt geloffen und rufft, fraw man hat euch unsern wäschkessel aus der mauer gestohlen." (1706)
An Raugräfin Louise von der Pfalz (Nichte?): "vor etlichen Tagen habe ich Ewer liebes schreiben vom 14 Juni zu recht entpfangen." (1714)
An Leibnitz: "Ich dancke Ihn sehr von den part, so Er genohmen in meiner trawerigkeit..." (1715)

Johann Christoph Gottsched: Deutsche Sprachkunst, 1767

"natürlich (Du), althöflich (Ihr), mittelhöflich (Er/Sie), neuhöflich (Sie) und überhöflich (Dieselben)"

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti, 1772

Die Leute von Stand (auch angesehene Bürgerliche) siezen einander.
Vetraute duzen sich. GeIhrzt wird überhaupt nicht.
Subtil wird es bei der Anrede der Emilia an einen Bedienten: sie erzt ihn. Ihre Mutter hingegen duzt den gleichen Bedienten.

Sophie Maria Helene Gräfin zu Lynar an ihren Sohn Fridrich Lynar, Lübbenau d. 25ten July 1775

"Ich bin dir mein Engel, noch eine Reise Relation schuldig..."

Johann Christoph Adelung: Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache, 1782

"Du wird nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache enger Vertrautheit und 4. im Tone hochgebiethender Herrschaft und tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit Ihr, etwas bessere mit Er oder Sie, noch bessere mit dem Plural Sie, und noch vornehmere mit dem Demonstrativo Dieselben oder auch mit abstracten Würdenamen, Ew, Majestät etc. an."

Journal des Luxus und der Moden*** (wohl um 1790-96)

"DU ist die Anrede des Vaters an sein Kind, der Geschwister unter einander, der Ehegatten, (jedoch bey diesen schon mit Ausnahme), übrigens die Anrede recht guter Bekannten, sonderlich in niedrigen Ständen, der Schüler, der Bauern-Jugend durchaus."
"Ehedem wurde der Knecht geduzt. Nun reden sie die meisten Herrn mit Ihr an."
"Gemeine Juden müssens noch fast überall leiden, daß sie durch Du erniedriget werden."

IHR: "Gegenwärtig ists, wie gedacht, die gemeine Sprache des Herrn zu seinem Diener, der Frau zur Magd, sodann aber auch des Bürgers zum Bauern, des gemeinen Manns zu Unbekannten von unscheinbarem Anzug, des Handwerkers zu seinem Gesellen."

ER: "Beinahe ist Er ein Merkmaal vom Meister-Recht. So heißt der Handwerker nicht nur seinen Mit-Genossen in der Innung; sondern auch jeden andern Handwerker [...] Eben so sprechen aber auch Obere mit Handwerkern. Auch schon der geringe Krämer heißt nicht mehr Er, auch der Wirth nicht mehr; wenn er nicht eine sehr gemeine Schenke hat [...].
Edelleute und Freyherrn glauben sich sonderlich berechtigt, mit dem so glücklich unterscheidenden Er ganz nach freyer Willkühr um sich werfen zu dürfen. [...] Der Amtmann, der Gerichtshalter, der Pfarrer, der Hofmeister, der Sekretär, der Krämer im Dorf ist ungestört ihr unterthänigster Er. – Er ist aber nicht blos Ausdruck zu Rang-Bezeichnung, sondern auch Ausdruck von Vertraulichkeit. Alte Bekannte auch in vornehmen Ständen sprechen daher öfters mit einander in der dritten Person."

P. Zimmermann: Die junge Haushälterinn,1792/1807

Hauptperson ist Karoline, eine Kaufmannstochter von ca. 12-15 Jahren, die bei einer Witwe in Kost** ist, um dort Haushaltung zu lernen.

Die ehemalige Lehrerin zu Karoline: "Sie stören uns gar nicht, meine liebe Karoline."
Karoline und ihr Bruder: "Hören Sie es, Herr Bruder?" – "Hören Sie es, Mamsell Schwester?" (Hier hat das Siezen eine ironische Komponente, wie am "Herr" bzw. "Mamsell" zu sehen.)
Die Witwe zu Karoline: "Kleiner Gelbschnabel, was du Alles daherschwätzest?"
Jungfer Nanette (ehemalige Kostgängerin der Witwe) zur Magd: "Warum Seyd ihr aber die Tochter eines Bauers?"
Karoline zur Magd: "Ihr seyd mir dafür schon recht lieb geworden, daß Ihre eure Mutter so lieb habt." Antwort: "Sie sind sehr gütig."
Ehemalige Magd zur Witwe: "Dieß sagten Sie mir vor acht Jahren schon, Frau Mutter, da ich noch in Ihrem Dienste zu seyn das Glück hatte." Antwort: " [...] Ich dächte, du hättest seither schon einen Dienst finden können."
Karoline zum Zinsbauern: "Wie befindet sich eure Frau zu Hause [...]?" Antwort: "Jungfer, bald möcht' ich was Arges von euch denken!"

 

 

*) Im Bairischen und diversen anderen Dialekten kennt man noch heute das Ihr, das von Dialektentwöhnten als unhöfliche Andrede für mehrere Personen empfunden wird.
**) Es war nichts ungewöhnliches, Kinder "in Kost" zu geben, d.h. sie wohnten bei anderen Leuten, denen man dafür Kostgeld bezahlte. Karolinens Vater ist Witwer, also muß jemand anderes als ihre Mutter sie ausbilden.
***) Originaltext mittlerweile online abrufbar.