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Seidenanzug um 1740-60 |
Der Schnitt ist eine selbergebastelte Kombination nach Vorlagen aus Waugh und Costume Close Up mit einer Prise Garsault. Das Versuchskaninchen hatte Konfektionsgröße 94, der hier vorliegende Schnitt also ebenfalls. Eine Anleitung zum Vergrößern gibt es hier.
Wie bei allen Schnitten, die ich zu Diagrammen verarbeite, sind gewisse Ungenauigkeiten nicht zu vermeiden, so daß man unbedingt ein Probestück aus billigem Stoff machen und es am Träger anpassen sollte. Ich kann z.B. nicht garantieren, daß der Ärmel in das Armloch paßt oder daß Schnitteile, die zusammengenäht werden, genau die gleiche Nahtlänge haben. Berücksichtige dies bitte beim Zuschneiden, indem Du im Zweifelsfall mehr Nahtzugabe gibst.
Die Saumlinie des Justaucorps dürfte beim Verkleinern auf Diagrammgröße besonders gelitten haben. Sie soll eine gleichmäßige Kreislinie bilden; von der kleinen Kreislinie in Taillenhöhe aus immer 60 cm entfernt. Begradige sie am fertig vergrößerten Schnitt, falls nötig. Gib am Saum mindestens 5 cm Zugabe. Ansonsten gilt: Fleißig messen, Schnitt ggf. abändern, dann das Probestück zuschneiden und anprobieren.
Die gebogenen Ärmelnähte könnten ebenfalls leicht verrutscht sein. Der Ärmel hat zwei Nähte, die sich anders als bei modernen Anzügen nicht unter dem Arm verstecken, weil die beiden Ärmelhälften gleich breit sind. Wenn Du die beiden Schnitteile (Ober- und Unterärmel) aufeinanderlegst, müssen sie mit Ausnahme der Kugel bzw. des Ausschnitts am oberen Ende genau gleich sein.
Im Schnitt habe ich weggelassen: Einen Übertritt fürs Hosentürl (3 x 17,5 cm), Untertritte für die Knieschlitze (3 x 20 cm) und das Knieband (3 x 36 cm), je ohne Zugabe gemessen. Bei den Knieschlitzen solltest Du den Untertritt gleich an das hintere Hosenteil mit anschneiden. Optional ist ein Keil, der hinten, im Kreuz, in den Schitz im Taillenband gesetzt wird. Da aber ein echter Herr niemals in Gesellschaft Rock und Weste ablegt, ist es egal, wenn die Hose hinten diesen Keil nicht hat.
Beachte bei der Anprobe, daß Justaucorps nicht so sitzen, wie man es heute von einem Anzug erwartet: Die Ärmel und das Justaucorps bzw. die Weste insgesamt sind aus heutiger Sicht zu eng, der Rücken und die Schultern zu schmal, der Hosenboden viel zu groß. Das eine schränkt die Bewegungsfreiheit ein, aber ein echter Herr macht auch keine Bewegungen, die im Justaucorps nicht möglich sind. Das andere erhöht die Bewegungsfreiheit, denn die Hosen sollten am Bein eng anliegen - aber nicht kneifen, wenn man sich hinsetzt, egal ob auf ein Sofa oder in einen Sattel.
Der Anzug darf ruhig auf Figur anliegen, soll aber natürlich nicht so eng sein, daß die Knopflöcher spannen. Es galt im 18. Jh. als schick, wenn der Herr einen schlanken, langen Oberkörper und nicht allzu breite Schultern hatte- also das, was man heute undiplomatisch als hühnerbrüstiges Handtuch bezeichnen würde. Die Schulterteile sollten also, anders als heute, nicht wesentlich über die tatsächliche Schulterkugel hinausragen: Schulterpolster zur künstlichen Verbreiterung sind grundfalsch! A propos Schultern: Daß die Schulternaht hinter der Schulter liegt und von dort aus noch weiter nach hinten kippt, ist eines der Merkmale, anhand derer man anständige 18.-Jh.-Kleidung von Kostümverleih-Mist unterscheiden kann. Bedenke bei der Anprobe, daß Weste und Justaucorps nur über dem Bauch schließen (bei späten Anzügen, d.h. ab ca. 1770, über dem unteren Brustbein). Wenn sie andernorts nicht weit genug zugehen, um sie zuknöpfen zu können, ist das also völlig in Ordnung. Vor allem über der oberen Brust bleibt alles offen, damit das Jabot herausschauen kann. Das Opfer sollte bei der Anprobe sehr gerade stehen, die Schultern zurück. Wenn der Anzug gut sitzt, aber bei nachlassender Haltung kneift, dann ist das durchaus im Sinne der Erfinder: Der Anzug sollte eine gerade Haltung unterstützen, indem er jede andere Haltung unbequem machte.
Die Hose soll so weit übers Knie reichen, daß das Hosenband im Sitzen schon fast das über das Knie hochrutscht, aber eben nur fast. (Vgl.: Bild 1, Bild 2). Die Figuren in der Fashioning-Fashion-Ausstellung hatten allesamt zu lange Beine, d.h. sie hätten sich nicht ordentlich hinsetzen können. Das Knieband sitzt etwa in der Gegend, wo das Bein unterhalb des Knies am schmalsten ist, bzw. ein wenig darunter. Bei schlecht gemachten So-als-ob-Anzügen pludert die Hose oft fast wie eine Knickerbocker um das Knie herum - dann ist die Hose zu weit und zu lang. Fällt die Hose bis auf die Waden hinunter, ist obendrein das Knieband zu weit. Die Hose muß um das Knie herum nur gerade so weit sein, daß man das Bein anwinkeln kann, ohne daß es allzusehr spannt, und darf erst ab der Mitte des Oberschenkels richtig weit werden. Die Seitennaht sollte ziemlich genau auf der Körperseite sitzen. Ist sie zu weit hinten, kannst Du die Seitenlinie des Vorderteils leicht nach innen abschrägen, maximal bis der Taschenschlitz genau auf die Seitennaht zu liegen kommt. Ist sie zu weit vorn, verbreitere die Oberkante des Vorderteils so, daß auch die Tasche breiter wird: Größere Taschen sind nie verkehrt. Denk daran, daß die Taschenbeutel dann ebenfalls breiter sein müssen.
Wenn das alles angepaßt ist, kann es ans Zuschneiden gehen. Damit nachher alles gut sitzt, und weil man so besser Stoff sparen kann, sollte man sich die Mühe machen, jedes Teil einzeln von der linken Stoffseite her anzuzeichnen, so daß man dann schön an den Linien entlangnähen kann. Paß dabei aber höllisch auf, daß Du nicht versehentlich zwei linke Teile schneidest!
Alle Teile des Justaucorps und der Hose sowie das Vorderteil der Weste werden
je zweimal in Oberstoff zugeschnitten. Die Tasche wird zweimal aus dem Justaucorpsstoff
im Bruch zugeschnitten und, etwas verkleinert, noch zweimal aus dem Westenstoff.
Achtung: Der Hosenbund ist und bleibt zweiteilig - nicht im Stoffbruch schneiden,
sondern in der hinteren Mitte viel Zugabe geben!
Aus Leinen braucht man das Vorderteil der Weste und den Hosenbund zweimal, den
Rücken der Weste viermal, dazu die Taschenbeutel von Hose, Weste und Justaucrops.
Aus Futter Vorder- und Rückenteil sowie Ärmel des Justaucorps je zweimal. Schneide das Futter möglichst gleichzeitig mit dem Oberstoff zu, nähe es bald zusammen und hänge es auf der Schneiderpuppe oder einem Kleiderbügel auf.
Und schließlich die Zwischenlagen, je zweimal. Bei einem wenig steifen Oberstoff (z.B. Seidentaft) empfehle ich Einlagen für den Hosenbund, die Vorderteile von Justaucorps und Weste, einen zusätzlichen Streifen an der Vorderkante von Justaucorps und Weste entlang (um der Knopf-/Knopflochleiste Halt zu geben), die hinteren Schöße und den hinteren Einsatz des Justaucorps. Ist der Oberstoff kräftiger (z.B. Wolle), reicht je ein Streifen an der Vorderkante von Justaucorps und Weste, das Vorderteil des Justaucorps bis zum Armloch (von dort aus geradeaus abwärts), ein Streifen entlang der Oberkante des hinteren Einsatzes und je ein Fleck am oberen Ende der Rockschlitze.
Nächster Schritt: Die Hose
Wednesday, 15-May-2013 23:52:41 CEST