Anatomie einer Schnürbrust 4

Schärding, blau

 

Das Stadtmuseum Schärding (Oberösterreich) besitzt drei Schnübrüste, die sehr wahrscheinlich zur gleichen Zeit entstanden sind. Sie ähneln in ihrer Machart zeitgenössischen Schnürbrüsten internationaler Modesammlungen, weisen aber Merkmale auf, die sie nur mit Expemplaren in süddeutschen und österreichischen Trachtensammlungen gemein haben. Ich nenne die drei Schärdinger Schnübrüste "die Blaue", "die Braune" und, weil ebenfalls braun, "die mit Stecker".

 

Allgemeine Beschreibung

Der Oberstoff scheint auf den ersten Blick ein Seidendamast in Hellblau uni zu sein. Erst bei sehr genauem Hinsehen entpuppt er sich als Lampas mit einem Kettsystem aus sehr hell blauen und einem aus etwas dunkler hellblauen Fäden. Die Nähte werden von schmalem hellblauem Ripsband mit winzigen Picots verdeckt. Das gleiche Band verläuft entlang der vorderen Mitte und rahmt die Zierschnürung ein. Diese besteht aus einem ähnlichen, eine Winzigkeit heller blauen Band, durch das eine Seidenkordel gleicher Farbe gezogen ist und, immer wieder mit sich selbst verschlungen, wie ein Netz über den unteren zwei Dritteln des Vorderteils liegt. Die Oberkante des Vorderteils verdeckt eine breite Silberspitze.

Die Kanten des Korpus sind mit hellem Leder versäubert, das im oberen Bereich und an der vorderen Schneppe usrprünglich von einem hellblauen Ripsband verdeckt wurde, das aber an vielen Stellen so verschlissen ist, daß es (mutmaßlich) zeitgenössisch mit diagonal geschnittenem hellblauem Seidentaft geflickt wurde. Tatsächlich gibt es keine Stellen, an denen das Band völlig unbeschädigt ist; nicht einmal an Stellen, die normalerweise gering belastet sind, z.B. dort, wo der Korpus im Rückenteil auf den Träger trifft. Die untere Hälfte der Armlöcher, die gesamte vordere Schneppe sowie Teile der Schnürkanten sind mit dem gleichen Taft ausgebessert worden. Die Kanten der Träger scheinen unter dem Ripsband keine extra Versäuberung mit Leder zu haben. An einer Stelle sieht man durch das durchgewetzte Band hindurch bunte Seidenfäden, die vermutlich zur Webkante des Oberstoffes gehören.

Im Bereich des Schulterblattes ist der Oberstoff z.T. abgewetzt und punktuell mit einem farblich leicht abweichenden Faden laienhaft überstickt. Daraus kann geschlossen werden, daß trotz des höchst dekorativen Stoffes meistens oder immer ein Kleidungsstück über der Schnürbrust getragen wurde. Die Zierschnürung und Silberspitze legen nahe, daß die Jacke vorn offen blieb, also entweder durch eine Schnürung verschlossen wurde oder parallel zur Zierschnürung mit Nadeln angeheftet. Es gibt allerdings keine Beschädigungen in diesem Bereich, die auf den Gebrauch von Stecknadeln hinweisen würden. Die vordere Schneppe müßte demnach über Rock und Schürze getragen worden sein, sonst wäre die Zierschnürung unschön optisch abgeschnitten gewesen; außerdem müßte sie dann ählich abgewetzt sein wie es große Teile des Oberstoffs auf Taillenhöhe sind.

Die Tunnel für die Fischbeinstäbe sind in hellblauem Seidenzwirn gesteppt. Da die Schnürbnrust nur halbsteif ist, bleibt zwischen den Stäben noch Platz für Ziersteppungen in Wellenform. Die Ösen der rückwärtigen Schnürung sind mit dem gleichen Seidenzwirn umstochen, aber nur durch den Oberstoff und die Basis-Schicht geführt, ohne das Futter mitzufassen. Neun Ösen pro Seite sind in der zeittypischen Weise versetzt angebracht: Die beiden untersten auf der linken und die beiden obersten auf der rechten Seite haben nur halb so viel Abstand zueinander wie die übrigen Ösen, ganz wie man es für eine Spiralschnürung erwarten würde.

Das Futter besteht aus mittelfeinem (20F/cm), gebleichtem Leinen mit einem Streublumenmuster in Schwarz, Hellblau, Rot und Gelb. Die Farbe sitzt nur auf der Oberfläche der Fasern, ist also keine Färbung wie bei Chintz, sondern wurde mit Pigmentfarbe aufgedruckt. Zwei halbmondförmige, ausgestopfte Wülste aus dem gleichen Stoff wurden außen auf die Zaddeln aufgesetzt.

Die Zaddeln sind von innen mit elfenbeinfarbenem Velourleder belegt, das um die Kanten herumgeführt und außen offenkantig anstaffiert wurde.

In der vorderen Mitte sind zwei Taschen ins Futter eingelassen; eine breitere, die sich zur Oberkante hin öffnet, und eine schmalere, die nur von unten her zugänglich ist. Die obere Tasche ist an der Öffnung ca. 8 cm breit, in der Mitte etwa 6 cm tief, zu den Seiten hin nur etwa 5 cm, und zum Körper hin leicht wattiert.. Die untere Tasche ist etwas breiter als ihre 2 cm breite Öffnung und reicht fast bis zur Oberkante, überlappt also die obere Tasche ein wenig. Falls diese Tasche für ein Blankscheit vorgesehen war, müßte dieses ziemlich schmal und dünn gewesen sein. (Zu den möglichen Zwecken dieser Taschen siehe auch den Artikel über "die mit Stecker".) Beidseits der oberen Tasche verläuft ungefähr Parallel zu Oberkante je ein Fischbeinstab, der in einem nicht sichtbar gesteppten Tunnel untergebracht ist. In den Rückenteilen sind zwei weitere unsichtbare, quer zu den sonstigen verlaufende Stäbe angebracht.

Die zwar laienhaft ausgeführten, aber unauffälligen Reparaturen, die ich für zeitgenössisch halte, sprechen dafür, daß diese Schnürbrust häufig und über längere Zeit hinweg getragen wurde. Das unterscheidet sie von vielen anderen erhaltenen Stücken, die – Stichwort conservation bias – oft nur deswegen erhalten blieben, weil sie z.B. nicht richtig paßten und daher kaum getragen wurden. In Konstruktion und Größe gleicht sie der braunen Schärdinger Schnürbrust, vor allem aber wurde bei beiden der gleiche Futterstoff verwendet. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurden beide in der gleichen Werkstatt gefertigt und vermutlich auch für dieselbe Kundin.

 

 

Konstruktion

Da die Nähte der Stabtunnel durch den Oberstoff ausgeführt wurden, aber nicht durchs Futter, ist anzunehmen, daß die Stäbe zwischen der Seide und einer Leinenschicht einerseits, und einer unsichtbaren Zwischenschicht andererseits gefaßt sind. Wo der Oberstoff durchgewetzt ist, kann man eine Lage aus gebleichtem, relativ offen gewebtem Leinen erkennen. Der Oberstoff, der nicht allzu steif sein dürfte, wurde also mit Leinen gedoppelt, bevor er auf eine weitere Stofflage gesetzt und dann alle drei Lagen durchsteppt wurden. Die unterste der drei Lagen kommt trotz aller Beschädigungen nirgendwo zum Vorschein. Es könnte sich dabei um Leinen handeln, aber einige Fadenenden, die auf der Tiefe der Schnürösen hervorschauen, sehen in Farbe und Dicke eher nach Rupfen aus. Sie könnten ein Teil dieser unteren Lage sein.

An zwei Stellen ist das Band, das die Nähte abdeckt, durchgewetzt bzw. schlampig aufgesetzt, so daß man hier sehen kan, wie die Schnitteile zusammengesetzt wurden: Mit kräftigem, hellem Leinenfaden mit dicht beieinander sitzenden überwendlichen Stichen. Man erkennt das daran, daß die sichtbaren Teile der Stiche fast senkrecht zur Naht und parallel verlaufen – Rückstiche liegen meist schräger und wechseln die Kipprichtung: überwendlich //// Rückstich \ / \ / \

Daraus läßt sich schließen, daß die einzelnen Teile gesondert gesteppt und mit Fischbein bestückt wurden. Die Schnürösen wurden vermutlich in dieser Phase umstochen. Danach wurden die Teile mittels überwendlicher Nähte zusammengesetzt, ehe man sie zusammen mit Kantenband versäuberte. Die Träger sind so ans Vorderteil genäht, daß es aussieht, als könnten sie auch angeschnitten sein. Sie sind also nicht, wie bei vielen anderen Schnürbrüsten der Zeit, durch ein Seidenband mit dem Vorderteil verbunden, so daß sie nicht in der Länge justiert werden konnten. Hinten wurde der Träger im Oberstoff unter die Kante des Rückenteils gesetzt, während das Futter des Rückenteils an dieser Stelle in einem Stück weiter bis in den Träger verläuft.

Zum Schluß wurde das Futter der beiden Rückenteile aufgelegt, ringsum anstaffiert, und dann das Futter des Vorderteils auf dem Kantenband bzw. auf dem Futter der Rückenteile anstaffiert.

Zu irgendeinem Zeitpunkt – sehr wahrscheinlich noch zu Lebzeiten der ursprünglichen Eigentümerin – muß die breite Borte auf dem Vorderteil durch die jetzige ersetzt worden sein: Auf dem Vorderteil (siehe Bildergalerie unten) ragen winzige Reste eine naturfarbenen Garns aus dem Stoff, die zusammen eine leicht gebogene Linie ergeben. "Die Blaue" muß also einmal ihrem braungrundigen Gegenstück noch ähnlicher gesehen haben.

 

Schnitt

Der Schnitt steht als PDF zur freien privaten oder wissenschaftlichen, nichtkommerziellen Verwendung zur Verfügung.

Bei einer Rekonstruktion ist zu bedenken, daß der Schnitt nur den Ist-Zustand abbildet, mit allen im Lauf der Zeit entstandenen Verzerrungen durch das Tragen oder die Lagerung sowie zusätzlichen Verzerrungen durch die beschränkten Möglichkeiten, den Schnitt von einem dreidimensionalen Objekt abzunehmen, das man nicht mal einfach plattdrücken kann.

Aus diesem Grund sind die Träger hier weggelassen: Da sie vorn und hinten angenäht sind, ist es ohne besondere Hilfsmittel fast unmöglich, einen Schnitt von ihnen abzunehmen, ohne das Objekt allzu großen Belastungen auszusetzen, aber es ist leicht, ihren Zuschnitt zu extrapolieren.

 

 


 

Bilder

 

 

 

Literatur

Tiramani, Jenny, Luca Costigiolo et al. Patterns of Fashion 5. London: The School of Historical Dress, 2019
Hutter, Ernestine. Adrett geschnürt. Salzburg: Carolino Augusteum, 1999
Kammel, Frank Matthias und Johannes Pietsch. Structuring Fashion. München: Hirmer, 2019
Šulcová, Veeronika, und Dana F. Szemályová. Šnerovacku nebo korzet? / Stays, or a Corset? Prag: Národní Muzeum, 2019
Waugh, Norah. Corsets and Crinolines. New York: Routledge, 1996 (Reprint, original 1954)

 

Alle Bilder und Grafiken dieser Seite dürfen für private und wissenschaftliche Zwecke heruntergeladen werden, und nur für diese Zwecke. Weiterveröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. Fotos von mir und Hildegund Bemmann. Fürs Herzeigen und die Erlaubnis, den Schnitt abzunehmen, danke ich Ludwig Vogl und dem Stadtmuseum Schärding.