Anatomie eines Spenzers 1

Schärding, Rips

 

Das Stadtmuseum Schärding (Oberösterreich) besitzt zwei Spenzer, einen frühen aus Rips und einen späteren aus Lampas.

 

Allgemeine Beschreibung

In Form und Zuschnitt entspricht die Jacke dem Typus des Spenzers, der im Süden des deutschen Sprachraums Bestandteil bürgerlicher Tracht um 1790-1820 war1. In Oberbayern entwickelte es sich dann zum Kasettl weiter und überlebte so zum Teil bis in heutige Vereinstrachten hinein. Zu den typischen Merkmalen gehören der figurnahe Zuschnitt mit schmalem Rückenteil und weit um die Seite herumreichendem Vorderteil, eine hoch liegende Taille, der große runde Ausschnitt, das kurze, weitgehend nurmehr symbolische Schößchen und lange, schmal geschnittene Ärmel, die bis zum Handgelenk reichen.

Es sind vor allem die langen Ärmel, die oberhalb der anatomischen Taille liegende Taillenlinie und das stark verkürzte Schößchen, die den Spenzer vom zeitlich früheren Caraco unterscheiden. Alle diese Veränderungen lassen sich leicht auf den Einfluß der französischen Tracht (AKA herrschenden Mode) der 1780er Jahre zurückführen. Dabei ist die Taille noch nicht so weit hochgerutscht, wie es in der Modetracht ab 1794 üblich wurde. Daher würde ich dieses Exemplar auf die mittleren 1790er bis sehr frühen 1800er datieren. Der Zeitversatz zwischen dem Aufkommen einer Mode in Frankreich und ihrer Übernahme in die bürgerliche und bäuerliche Tracht hierzulande war um 1800 nicht allzu groß.

Der Oberstoff ist ein grün und orange-hellrot changierender Rips. Sehr wahrscheinlich ist es ein Kettrips mit einer Kette aus sehr dicht zusammengeschobenen, feinen Seidenfäden und einem Schuß aus deutlich dickerem, rötlichem Seidenfaden. Erst bei sehr, sehr genauem Hinsehen stellt sich heraus, daß neben Grün und Rot noch eine weitere Farbe vorhanden ist: Das Grün ist in Wirklichkeit sehr schmal grün und braun gestreift. Ein solcher Effekt ergibt sich, wenn die Kettfäden abwechselnd grün und braun sind. (Für den gleichen Effekt bei Schußrips müßte der Weber bei jedem einzelnen Schuß das Schiffchen wechseln und sehr dicht anschlagen.) Obwohl das Braun in der Gesamtwirkung fast verlorengeht, wurde vielfach ein brauner Nähfaden benutzt.

Die Konstruktion hat sich gegenüber der von Caracos offenbar kaum verändert: Die hintere Mittelnaht wurde ebenso verfertigt wie beim grünen Lampas-Caraco: Das Rückenteil wurde im Futter im Bruch zugeschnitten, im Oberstoff aber zweiteilig. Die eine Hälfte des Oberstoffs wurde mit untergeschlagener Schnittkante entlang der Hinteren Mitte auf die glatt liegende andere Hälfte gesteppt. Die nur punktuell auf die Oberseite tretenden Stiche sind von außen deutlich zu sehen, von innen aber sieht man: nichts. Die beiden Rückenhälften müssen also zusammengefügt worden sein, bevor das Futter hinzukam. Die anderen Nähte scheinen verstürzt gearbeitet worden zu sein; allerdings zeigt sich entlang der Naht zwischen Rückenteil und seitlichem Rückenteil auf der Futterseite eine Naht in Spar-Rückstich (d.h. mit sehr kurzem Rück- und langem Vor-Stich) aus grünlichem Garn. auf der Außenseite ist von dieser Naht nichts zu sehen, wohl weil sie exakt in der Nahtlinie verläuft. Die Farbe des Nähfadens ist auf den Oberstoff abgestimmt, aber eine Absteppung in einer verstürzten Naht erschließt sich mir nicht ganz. Vielleicht sollten die Nähte von Oberstoff und Futter daran gehindert werden, gegeneinander zu verrutschen? Aber warum dann Rückstich statt Vorstich?

Die Konstruktion der Ärmel mußte naturgemäß an die modische Veränderung angepaßt werden. Schon früher hatte man bei Ärmeln, die länger waren als bis zum Ellenbogen, einen kurzen Abnäher angebracht, damit der Ärmel der Biegung des Ellenbogens anliegt2. Waren die Ärmel länger, war es mit einem Abhäher nicht mehr getan und die Ärmel wurden so geschnitten wie im Diagramm hier zu sehen3. In der Schnittübersicht ist deutlich zu erkennen, daß dieser Ärmelzuschnitt ausgesprochen raumgreifend ist, was die vielen Stückelnähte im unteren Bereich erklärt: Seidenstoffe lagen oft nur ca. 50 cm breit. Zwei der Stückelnähte liegen auffallend parallel zur Längsachse des Ärmels, also wohl zur Webkante. Nicht im Schnitt verzeichnet, weil schwer zu fassen, sind dreieckige Stückelungen in der Achsel, die möglicherweise die Fortsetzung der Längs-Stückelnähte sind, sowie eine halbmondförmige Stückelung in nur einem Ärmel, als ob dort jemand die Achsel versehentlich zu tief geschnitten hätte. Dazu paßt eine Kette von rosa Punkten, wo offenbar eine Naht aufgetrennt wurde: Der fehler wurde wohl erst bei der Anprobe bemerkt und der bereits eingenähte Ärmel noch einmal herausgetrennt, zumindest teilweise. Die Nahtzugabe an dieser Stelle muß dann vorher ordentlich breit gewesen sein.

Am Handgelenk ist ein Schlitz und Knopfschluß mit zwei stoffüberzogenen Knöpfen eingerichtet. Die mit braunem Seidengarn mit Knopflochstich umstochenen Knopflöcher sitzen ungefähr im 45°-Winkel zur Schlitzkante, aber genau im Fadenlauf. Indem sie quer zum dickeren Rips-Faden geschnitten wurden, konnte der Schnitt nicht gar so leicht ausfransen als wenn der Schnitt parallel dazu ausgeführt worden wäre. Auch die Stiche der Versäuberung haben so besseren Halt im Gewebe.

Der Ärmelschlitz wurde von innen mit Oberstoff belegt, anscheinend aus Resten und ohne besonderes Augenmerk auf das, was man im Schneiderhandwerk späterer Zeiten eine "saubere Verarbeitung" genannt hätte. Das 18. Jahrhundert legte darauf einfach noch nicht so viel Wert; Stoffökonomie war wichtiger. (Meine persönliche These lautet, daß man es sich erst nach Einführung der Nähmaschine "leisten" konnte, sich auch an unsichtbaren Stellen mit der Optik aufzuhalten.) Schließlich wurde ein Streifen aus in Falten gelegtem Batist mit ziemlich groben Stichen von innen angeheftet, so daß er wie die Ärmelrüsche eines langärmeligen Hemdes aus dem Ärmelende hervorschaut. Der Batist wurde allerdings nicht versäubert und franst in typischer Batistmanier vor sich hin, und die Heftfäden treten zum Teil nach außen durch, was die Frage aufwirft, ob da nicht – wie so oft – spätere Generationen zugange waren.

Das Schößchen ist deutlich schmaler als bei den beiden Schärdinger Caracos, während der Unterschied zum blauen Flohmarkt-Caraco nicht gar so groß ist – jedenfalls nicht vorn und an der Seite. Im Rückenteil hingegen ist die große Welle, die für Caracos des 18. Jahrhunderts so typisch ist, deutlich geschrumpft: Der Radius des 5/6-Kreises ist kaum größer als die Breite des restlichen Schoßteils. In der hinteren Mitte und dort, wo der angeschnittene Schoßteil des Rückens auf das angesetzte Schoßteil trifft, wurden die Nähte noch einmal parallel zur Kante geheftet, um einen scharfen Knick zu erzeugen, so daß sich eine bestimmte Wellenform ergibt. Das Futter des Schößchens ist aus sehr dünner Seide (Pongé), deren Rosaton so gut zum dem der Schußfäden paßt, daß es wohl großenteils die ursprüngliche Farbe sein wird.

Das Futter der Ärmel besteht aus glattem, mittelfeinem, halbgebleichtem Leinen in Leinwandbindung, das des Korpus' hingegen dürfte Barchent sein: Ein 2/1-Köper, bei dem ein Garnsystem (vermutlich der Schuß) deutlich dicker ist als das andere, und der abschließend angerauht wurde.

Der Verschluß besteht aus je sechs eisernen, geschwärzten Haken und Ösen, wobei die Ösen links sitzen. Ich hätte noch ein Haken-Ösen-Paar ganz oben am Ausschnitt erwartet, aber offenbar verließ man sich darauf, daß die Rüsche, die den Ausschnitt einrahmt, eine Lücke verdeckt. Die Rüsche ist in der vorderen Mitte etwa drei Finger breit und wird auf dem Weg zu hinteren Mitte etwas breiter. Sie besteht zwei Streifen Oberstoff, die in Kettrichtung geschnitten und durch doppeltes umbugen versäubert wurden. Dann wurden sie mittig sowie ein wenig innerhalb der Längskanten ("mit Köpfchen") eingereiht, bevor sie mit drei parallelen Heftnähten entlang des Ausschnitts so befestigt wurden, daß eine Rüschenkante ein wenig über die Ausschnittkante hinausragt. In der hinteren Mitte treffen sie V-förmig aufeinander.

Der Erhaltungszustand des Spenzers ist hervorragend. Bis auf eine abgewetzte Stelle an der dünnen Seide des Schößchenfutters und winzige Schadstellen im Oberstoff, die theoretisch auch schon bei der Herstellung entstanden sein könnten, konnten wir keinen Vergang feststellen. Der Rips wirkt, als wäre er gerade erst gewebt worden. Man fragt sich unwillkürlich, ob die Jacke jemals getragen wurde, und wenn ja: mehr als einmal?

 

Schnitt

Der Schnitt steht als PDF zur freien privaten oder wissenschaftlichen, nichtkommerziellen Verwendung zur Verfügung.

Abgebildet ist hier nur der Zuschnitt des Oberstoffs. Im Futter liegt die Naht zwischen Seiten- und Vorderteil etwas anders. Auch Oberstoff-Belege sowie die Rüsche wurden weggelassen. Beachte, daß der graue Bereich für den Zuschnitt irrelevant ist: Es zeigt nur, wo die Rüsche aufgesetzt ist, und daß diese über die Kante des Halsausschnitts hinausragt.

Bei einer Rekonstruktion ist zu bedenken, daß der Schnitt nur den Ist-Zustand abbildet, mit allen im Lauf der Zeit entstandenen Verzerrungen durch das Tragen oder die Lagerung sowie zusätzlichen Verzerrungen durch die beschränkten Möglichkeiten, den Schnitt von einem dreidimensionalen Objekt abzunehmen, das man nicht mal einfach plattdrücken kann.

DieÄrmel würde ich vermutlich versuchen im Stoffbruch zuzuschneiden, damit die Unterarm-Teile gleich werden (was sie eigentlich sein sollten), und die Ärmelkugel dann im aufgeklappten Zustand zu korrigieren.

 

 

 

 

 

Bilder

       

 

 

1) Im Kontext der französischen Tracht (AKA "Mode") gibt es ein sehr ähnliches Kleidungsstück gleichen Namens, das wohl die Inspriationsquelle war.
2) z.B. Waugh, Nora. The Cut of Women's Clothes : 1600-1930. London: Faber & Faber, 1968. Diagram XXII.
3) Beispiele aus der französischen Tracht: Andersen, Ellen. Danske dragter : Moden i 1700-årene. Nationalmuseet: København, 1977. S. 246 und The Cut of Women's Clothes Diagram XXIV

Literatur


Gierl, Irmgard. Miesbacher Trachtenbuch: Die Bauerntracht zwischen Miesbach und Inn. Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag, 1971
Laturell, Volker D. Trachten in und um München: Geschichte – Entwicklung – Erneuerung. München: Buchendorfer Verlag, 1998
Prodinger, Friederike, und Reinhard H. Heinrich. Gewand und Stand: Kostüm- und Trachtenbilder der Kuenburg-Sammlung. Salzburg: Residenz Verlag, 1983
Szeibert, Rita. Meisterstücke zwischen Mode und Tracht : Caraco- und Spenzergewand. München: Hirmer Verlag, 2017
Szeibert-Sülzenfuhs, Rita. Die Münchnerinnen und ihre Tracht. Dachau: Verlagsanstalt "Bayernland",1997
Zumsteg-Brügel, Elsbet. Die Tonfiguren der Hafnerfamilie Rommel. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft, 1988

 

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