Herstellung eines Korsetts

 

Ein Korsett des 19. Jahrhunderts selber zu machen, ist gar nicht so schwierig, wie man meint. Das heißt, um genau zu sein: Von der Nähtechnik her ist es ziemlich einfach, wenn man etwas Näherfahrung hat; die Kunst liegt in der Größenanpassung, und die ist tatsächlich eine Kunst für sich. Gottseidank gibt es mehrere Kaufschnitte, die einem den Großteil der Arbeit abnehmen. Sie garantieren aber leider nicht, daß das Ergebnis so sitzt, wie es soll, denn wer hat schon eine perfekte Konfektionsfigur? Ein Kaufschnitt in einer großen Größe wird immer für eine große (d.h. lange) Frau berechnet sein und damit für eine kurze dicke zu lang und oft auch in der Taille zu weit (Ja, Du hast richtig gelesen! Lies ein paar Absätze weiter.). Es ist deshalb auch bei einem Kaufschnitt sehr sinnvoll, daß jemand mit viel Näherfahrung bei der Anprobe assistiert. Wer eine nicht ganz standardmäßige Figur hat, also besonders groß, besonders klein, besonders dick, besondern dünn ist oder besonders viel Holz vor der Hüttn hat, wird nämlich auch mit einem Kaufschnitt einige Anpassungen vornehmen müssen. Besonders erfahrene Näherinnen können auch Schnitte wie die aus Waughs "Corsets an Crinolines" oder den von einem originalen Korsett nehmen und umrechnen und/oder durch Versuch und Irrtum anpassen, aber davon rate ich ab: Das habe ich mal versucht und brauchte vier Probeteile, bis es halbwegs paßte. Halbwegs reicht aber nicht, wenn ein enganliegendes Kleid darüber ordentlich sitzen soll. (Wer es trotzdem versuchen will, findet hier zwei originale Korsettschnitte von 1885.)

Der erste Schritt ist also, einen guten Schnitt zu besorgen. Die besten Kritiken bekam bisher die Schnittpackung von Laughing Moon*, die neben zwei Korsettschnitten auch noch Schnitte für eine Chemise und Unaussprechliche beinhaltet. Viele Kritiker sagen auch, daß man die Korsetts dieser Firma eine Größe kleiner als angegeben machen sollte. Für weitere Schnitte findest Du Kritiken bei der Great Pattern Review. Im Folgenden gehe ich davon aus, daß Du einen Schnitt in der halbwegs richtigen Größe hast, woher auch immer. Die genaue Anpassung machen wir dann noch.

Das Korsett der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist sanduhrförmig. Es wurde, ebenso wie heutige Korsetts, vorn durch eine Planchet genannte Schließe verschlossen, die aus zwei Metallstreifen besteht. Auf einem Streifen sitzen pilzförmige Nägel, an der anderen kräftige Ösen, die über die Nägel gehakt werden. Die Schnürung im Rücken wird normalerweise nicht auf- und zugeschnürt, sondern dient nur dazu, das Korsett mehr oder minder eng zuzuschnüren.

Bis ca. 1876 reichte das Korsett gerade eben bis zur Hüfte, da alles von der Taille abwärts sowieso durch die weiten Röcke verdeckt wurde. Von 1876 bis 1882 herrschte die Küraßmode, bei der die Kleider bis tief über die Hüfte eng anlagen, also mußten auch die Korsetts länger werden. Etwa um diese Zeit wurde auch das Löffelplanchet erfunden. Während das normale Planchet überall gleich breit und gerade ist, ist das Löffelplanchet in der Bauchgegend breiter und am unteren Ende vorgewölbt, so daß es den Bauch in der Magengegend (also auf Taillenhöhe) wegdrückt, dem Unterleib aber Platz läßt.

Anders als heute durfte der Körper unterhalb der Taille beliebig breit werden – und mußte das auch, denn eine schlanke Frau war damals nicht annähernd so fettarm wie das, was man heute schlank nennt. Die verschlankende Wirkung des Korsetts beruht nicht darauf, daß es die vorhandene Fülle zusammendrückt**, sondern es drückt vielmehr die weiche Masse nach unten, Richtung Hüfte, wo das Korsett folglich umso weiter sein muß. Irgendwie haben die damals viel eher als heutige Modefritzen und ihre klapprig-dürren Mannequins kapiert, worauf es ankommt: Der Taillenumfang muß gar nicht so besonders klein sein, solange nur das Verhältnis zu Ober- und Hüftweite stimmt.

In den 1890ern kam das Löffelplanchet wieder aus der Mode. Die Taillen wurden tendenziell noch enger geschnürt als zuvor. Zum Ausgleich wurde der Hüfte noch mehr Spielraum gegeben, z.B. durch eingesetzte Keile. Gegen 1900 wurde das "normale" Sanduhr-Korsett durch ein Modell mit gerader Front (S-Linie) abgelöst, das ein Kapitel für sich ist und hier nicht behandelt wird, obwohl die Technik die gleiche ist - der Schnitt ist aber völlig anders.

Das Hemd sollte fertig sein, bevor Du mit dem Korsett angfängst. Es spielt bei der Anprobe eine wichtige Rolle.

Die folgende Anleitung ist für alle diese Korsettformen geeignet; die Unterschiede liegen fast ausschließlich in der Länge.

 

*) in D z.B. erhältlich bei neheleniapatterns.com
**) Das ist anatomisch unmöglich, denn es würde voraussetzen, daß im Körper nennenswerte Hohlräume existieren, aus denen man mal eben die Luft rausdrücken kann, wie bei einem Schwamm. Die Natur hat aber das bißchen Platz in Brust- und Bauchhöhle voll ausgenutzt. Das Korsett wirkt, wie wenn man einen Luftballon zusammendrückt: Der Ballon wird da, wo man nicht drückt, dicker.