Eine Warnung vorweg: Ich behaupte nicht, wirklich zu wissen, wie man ein Tournürenkleid macht. Ich habe erst eins gemacht und bin damit nur mäßig zufrieden. Aber ich kriege immer mal wieder Anfragen danach, und bevor ich jedem einzeln das wenige sage, was ich weiß, baue ich doch lieber eine Seite, die ich später mal um meine praktischen Erfahrungen erweitern werde.
Die ersten Tournüren gab es in den frühen 1870ern, aber um die geht es hier nicht - trotzdem läßt sich das Prinzip auch auf die frühen Tournüren anwenden. Nach ein paar Jahren, in denen die Röcke um Hüfte und Beine herum recht eng waren*, kam die Tournüre 1882/83 wieder und blieb bis 1886, vereinzelt auch bis 1887. Am größten war sie 1884/85. Das ist die Tournüre, die ich recherchiert habe. Der Begriff Tournüre bezeichnet zum einen die Modelinie dieser Zeit (auch als Cul de Paris bekannt), zum anderen das reifrockähnliche Kleidungsstück, das diese Linie ermöglicht. Ähnlich wie die Paniers und Krinolinen früherer Zeit gehört es zur Unterkleidung.
Es gibt verschienene Varianten: ganze oder halbe Röcke mit in Tunneln eingeschobenen Fischbein- oder Stahlstäben, oder durch Stoff- oder Lederbänder verbundene Gerüste aus Stäben, je in verschiedenen Längen (also nur über dem Popo oder bis zu den Knien runter). Am leichtesten ist der halbe Rock mit Tunneln nachzumachen; einen Schnitt dazu gibt es bei Waugh. Einen Schnitt und Tips zur Herstellung des Rockes und der Drapage findest Du bei Hunnisett. Es gibt auch Schnittmuster zu kaufen - die von Truly Victorian sind im allgemeinen recht gut. Du bekommst sie u.a. bei kostuemkram.
Die Tournüre wird über Chemise, Unaussprechlichen, Korsett und Untertaille umgebunden. Darüber kommt ein entspechend geformter Unterrock und darüber wiederum der eigentliche Rock. Und der ist, wie damals üblich, gefüttert. Genau wie bei den Taillen dieser Zeit ist das Futter (anders als heute) nicht genauso geschnitten wie der Oberstoff: Der Sinn des Futters war nicht, rutschig zu sein, damit das Kleidungsstück nicht am Darunter "klebt", sondern es diente als feste Basis, auf die der Oberstoff drapiert wird. Es darf also nicht allzu flimsig sein. Den Schnitt für das Futter würde ich genauso machen wie für den Unterrock. Also, um das nochmal ganz klar zu machen: Alles das, was man in den Modekupfern vom Rock sieht, ist eigentlich nur schlau auf das Futter draufdrapiert, so daß es wie ein Rock aussieht. Aber nimm das Futter raus, und Du hast nur noch einen ungeordneten Haufen Stoffstücke.
Am besten hängst Du Tournüre, Unterrock und Futter auf eine Schneiderpuppe
und probierst dann mit dem Oberstoff verschiedenes aus, mit ein paar zeitgenössischen
Bildern als Vorlage. Mal ein relativ einfaches Beispiel: Bild
Die Drapage scheint aus 2 oder 3 Teilen zu bestehen:
Wenn du das nachmachen wolltest, würdest du mit Teil 2 und 3 anfangen. Sagen wir einfach mal, das sei ein Teil. Wo sieht man es? Von der vorderen Mitte bis zum Anfang von Teil 1, und nur dort existiert es auch. Es reicht an beiden Seiten genau so weit unter Teil 1, daß man das Ende auch dann nicht sieht, wenn Teil 1 ein bißchen verrutscht. Die senkrechten Kanten von Teil 2/3 sind am Futter fixiert, so daß da nicht allzu viel verrutschen kann, und die senkrechte Kante von Teil 1 wahrscheinlich auch, aber schön unauffällig und verdeckt.
Du hast die Wahl, ob Du ein Modebild zum Vorbild nimmst oder einfach (natürlich erstmal mit billigerem Stoff) losexperimentierst. Du kannst nicht nur die Stoffränder in Falten legen und unter einem anderen Teil (einer Drapage, einer Rosette oder einem scheinbar lose herabhängenden Band) verstecken, sondern auch mittendrin von hinten ein Band gegensetzen, an dem Du in Abständen den Oberstoff anheftest, oder den Oberstoff an strategischen Punkten direkt ans Futter heften.
Mit dem Garnieren des Rockes ist das Wichtigste geschafft. Für die Taille kannst Du die Anleitungen und Grundschnitte von 1908 verwenden. Auch hier gilt, daß Du grundsätzlich fast alles machen kannst, was sich durch Drapieren des Oberstoffes auf das Futter realisieren läßt.
Zugegeben, diese Anleitung ist etwas dürftig, aber die Möglichkeiten sind so vielfältig, daß es fast unmöglich ist, eine allgemeine Anleitung zu geben. Das Drapieren erfordert nun einmal Phantasie und Experimentieren. Bedenke auch, daß ich Dir nicht einen Fisch geben will, sondern Dich das Fischen lehren. Ich gebe also keine Anleitung für eine Drapage, sondern versuche, das Grundprinzip des Drapierens darzustellen.
* ) In der englischsprachigen Literatur heißt das ironischerweise "natural form", auf Deutsch passender Küraßmode.