Das hier vorgestellte Mieder stammt aus dem Besitz des Dachauer Stadtmuseums und befindet sich derzeit im Trachteninformationszentrum in Benediktbeuern. Die zierenden Schnürhaken zeigen, daß es sich hier nicht um eine klassische Rokoko-Schnürbrust handelt, wie man sie in ganz Europa unter der Kleidung trug, sondern um ein eher der bürgerlichen Tracht zugehöriges Kleidungsstück, wie es im ganzen süddeutschen Raum verbreitet war. Wohlhabendes Stadtbürgertum sicherlich, wie der Stoff zeigt, aber auf jeden Fall Bürgertum.
Ungewöhnlich an diesem Stück ist, daß noch der originale Miederstecker dabei ist: Da er nicht fest mit dem Rest der Schnürbrust verbunden ist, ging er bei den meisten erhaltenen Exemplaren verloren. Außerdem sind die Schnürhaken nicht direkt an der Vorderkante angebracht, wie es bei den meisten erhaltenen Exemplaren des 18. Jh. der Fall ist, sondern schräg entlang einer Zierborte weiter außen, fast wie bei Miedern des frühen 19. Jahrhunderts. Und schließlich sind die Schulterträger so ausgesteift, daß sie von allein stehen. Inwieweit sich dieses Merkmal bei anderen zeitgenössischen Miedern findet, kann ich nicht feststellen, denn im besten Buch zum Thema1 werden alle Ausstellungsstücke auf körperförmigen Gestellen präsentiert.
Form, Stoff und Verarbeitung entsprechen denen des 18. Jahrhunderts. Einen nahezu waagerechten Halsausschnitt mit fast auf dem Oberarm sitzenden Trägern kenne ich eigentlich eher aus dem 17. und sehr frühen 18. Jahrhundert, aber ansonsten spricht eigentlich alles für die 2. Hälfte des Jahrhunderts:
Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß die Schnürbrust um 1780-1790 entstanden ist. In "Adrett geschnürt"1 gibt es ein Mieder mit ganz ähnlichem Zuschnitt und waagerechten Trägern, das dort auf 1780/90 datiert ist (Kat.-Nr. 26).
Der Oberstoff besteht aus einfarbig floral gemustertem rotem Lampas. Das Grundmuster entsteht aus aus flottierenden Fäden und wird überlagert durch ein broschiertes Muster aus ungedrehtem Garn in Weiß, Gelb, Rosa, Braun (evtl. ursprünglich Dunkelrot), Grün, Hellblau und mittlerem Graublau. Die Nähte werden, mit Ausnahme der Seitennaht, von einer schmalen (5-6 mm) gelblichen Zierborte mit Picots verdeckt. Die Kanten sind mit einem gelblich-rosa Seidenband von ca. 12-15 mm Breite versäubert. An einer Stelle hat sich das Kantenband gelöst; die Innenseite zeigt ein dunkles Altrosa, der Farbe des Oberstoffs recht ähnlich. Das bedeutet wohl, daß das Kantenband anders ausgeblichen ist als der Oberstoff. Tatsächlich zeigt sich im Detail, daß die Kette gelblich ist und der Schuß teils aus magenta-, teils aus blaßrosafarbenen Fäden besteht. Es könnte sich um drei verschiedene Materialien handeln, die schon allein deswegen unterschiedliches Ausbleichverhalten zeigen und vielleicht auch mit unterschiedlichen Färbedrogen gefärbt wurden. Vielleicht war die Zierborte auf den Nähten ursprünglich ebenfalls rot oder rötlich.
Entlang der schrägen Zierborte im Vorderteil sind vier Paar silberne, vermutlich gegossene Haken aufgesetzt. Die darin eingehängte Schnürung (verloren) hielt den Stecker offenbar nur durch anpressen an den Körper am Platz. Andere Befestigungsmöglichkeiten für den Stecker gibt es nämlich nicht. Die Haken mußten also einigen Zug aushalten, was die recht dicke Ausführung erklärt. Schnürhaken an Miedern des 19. Jh. sind meist deutlich filigraner. Die Platzierung der Haken ist ungewöhnlich, denn normalerweise sind sie bei vergleichbaren Schnürbrüsten entlang der Vorderkante angebracht. Es ist denkbar, daß die Haken später versetzt wurden, aber eindeutige Hinweise darauf sind nicht zu entdecken.
Bis auf die jeweils erste neben der vorderen und hinteren Schneppe sind alle Zaddeln mit dünnem, cremeweißem Veloursleder bezogen. Auf die vier seitlich am Körper sitzenden Zaddeln wurden halbmondförmige Wülste aus bedrucktem Leinenstoff aufgenäht. Die gut gestopfte Füllung fühlt sich an, als bestünde sie aus Stoffresten.
Die Innenseite zeigt einen dicht gewebten Leinenstoff mit einem Muster von breiten und schmalen Streifen aus dreiviertel- bzw. ungebleichtem Garn. Die Tunnelsteppung (3/4-gebleichtes Leinengarn) wurde durch diesen Stoff geführt; es handelt sich also vermutlich um die innere Basislage. An Stellen, wo der Oberstoff beschädigt ist, kommt halbgebleichtes, relativ grobes Leinen zum Vorschein, das wahrscheinlich die äußere Basislage darstellt.
Entlang der Vorderkante, der Achsel und des oberen Endes der Zaddeln wurden breite Lederstreifen mit überwendlichen Stichen aufgesetzt, wohl um den Stoff gegen durchscheuern zu schützen. Gerade an der Vorderkante, die auf dem Stecker aufliegt, dürfte das sinnvoll sein, zumal das weiche Leder auch den Stecker schont. Im oberen Teil des Rücken- und seitlichen Rückenteils - von der Achsel aufwärts - ein bedruckter Leinenstoff als Futter aufgesetzt.
Die hintere Schneppe sowie die beiden daran angrenzenden Zaddeln sind mit weißem Glattleder gefüttert, alle anderen Zaddeln hingegen mit dem gleichen Leinen wie der Korpus. Die Schulterträger sind stark versteift und so in Form gebracht, als ob sie sich um eine Schulter schmiegen, sind aber so flexibel, daß man sie theoretisch ohne Kraftaufwand geradebiegen könnte. Wie das erreicht wurde, läßt sich nicht feststellen. Fischbein kann es nicht sein. Möglicherweise wurde die äußere Basislage geleimt und/oder Papier zwischengelgt. Papier wurde übrigens auch entlang der Vorderkante verwendet, und zwar direkt unter dem Oberstoff. Die vier Schnürösen sind nur sehr grob mit sieben, acht Stichen umstochen.
Der Stecker ist vollkommen unflexibel. Die Oberkante wölbt sich in der Mitte um 9 cm auf. Nach unten hin verläuft sich die Wölbung allmählich. Die Außenseite ist größtenteils mit dem gleichen Stoff bezogen, der im Rücken der Schnürbrust das Futter bildet. Nur oben ist ein breiter Streifen des Seiden-Lampas angebracht. Die Innenseite ist vollständig mit dem Stoff gefüttert, aus dem die Hüftwülste gefertigt wurden.
Die Oberkante wird durch zwei parallele Stangen mit rundem Querschnitt und ca. 5 mm Durchmesser in Form gehalten. Um Metall kann es sich nicht handeln, dafür ist der Stecker zu leicht. Fischbein wäre wahrscheinlich zu flexibel, zumal mit rundem Querschnitt, allerdings hatte ich noch nie Fischbeinstäbe dieser Dicke in der Hand. Holz in diese Form zu bringen, ist zwar nicht unmöglich, aber die Technik, es durch dämpfen in eine gebogene Form zu bringen, existiert meines Wissens erst seit 1830. Es hätte also in Form geschnitzt werden müssen. Zwei ähnliche Stangen verlaufen entlang der schrägen Außenkanten. Ob und inwiefern der Rest des Steckers mit Fischbeintunneln versteift wurde, läßt sich nicht erkennen. Möglicherweise ist auch Leim und/oder Pappe im Spiel.
Die Maße der ursprünglichen Trägerin lassen sich nur ungenau eruieren, da wir nicht wissen, wie stark die Schnürbrust mit dem Stecker überlappte. Geht man davon aus, daß die Überlappung so breit war wie die schützenden Lederstreifen an der Vorderkante, dann kämen die Hörnchen des Steckers unter den vorderen Träger-Ansätzen zu liegen, was sowohl optisch als auch anatomisch sinnvoll erscheint. Daraus ergäbe sich eine Oberweite von 90 cm und eine Taillenweite von 74 cm. Eine geringere Überlappung ist eher unwahrscheinlich, da sonst die Gefahr bestünde, daß der Stecker sich bei Bewegung verschiebt.
Die Basis besteht vermutlich aus dem innen sichtbaren, gestreiften Stoff, und einem gröberen Leinen. Durch diese beiden Lagen sind die ca. 5 mm breiten Beintunnel gesteppt. Die Schnürbrust ist vollsteif, d.h. die komplette Fläche ist mit Fischbeintunneln gefüllt. Ich vermute, daß jedes Schnitteil für sich fertiggestellt wurde und dann mit überwendlichen Stichen an das nächste gesetzt. Hierfür spricht das Stichbild an den Nähten zwischen den Teilen (Bild 1). Bei einer solchen Vorgehensweise wäre es das sinnvollste, die Nahtzugaben der beiden Basis-Lagen gegeneinanderzuschlagen und zu heften und dann die Tunnel abzusteppen.
Der Oberstoff wurde gesondert zusammengesetzt und nachträglich aufgelegt, denn er ist nicht durchsteppt. Außerdem entspricht der Nahtverlauf im Oberstoff zum Teil nicht dem in der Basis. Die schräge Borte vorn z.B. verdeckt keine Naht im Oberstoff, obwohl sich in der Basis eine scheinbar parallel dazu verlaufende Naht befindet: Im Oberstoff ist hier nur eine Falte eingelegt, die unter der Zierborte hervorkommt und sich in der Schneppenspitze in Nichts auflöst (Bild 2). Tatsächlich verläuft die Borte schräger als die Naht innen und ist im unteren Abschnitt sogar leicht gebogen (die Naht hingegen ist völlig gerade) und kaschiert so die eigentliche Konstruktion. Bei der schrägen Borte im Rückenteil verhält es sich ähnlich.
Die wahrscheinlichste Erklärung für diesen unterschiedlichen Nahtverlauf ist, daß die Borte optisch eine schmalere Taille macht, wenn sie vorn und hinten jeweils schräger verläuft. Die Nähte darunter konnten aus technischen Gründen nicht ebenso verlaufen. Das hat mit der Richtung der Stabtunnel zu tun, die immer parallel zu einer Schnittkante verlaufen müssen und dann möglichst geradeaus weiter in die Zaddeln hinein verlaufen sollten, denn nur so läßt sich verhindern, daß die Taillenlinie sich unangenehm ins Fleisch gräbt. Je schräger die Naht, desto schwieriger ist das zu erreichen.
Aus dem gleichen Grund besteht die Basis aus elf Schnitteilen, obwohl eine Schnürbrust eigentlich zweidimensional ist und daher theoretisch aus einem einzigen Stück geschnitten werden könnte: Um jeweils unterschiedliche Richtungen für die Stabtunnel zu erzielen und weil sich einige der Zaddeln überschneiden würden. In Bild 3 ist der Verlauf der Tunnel im seitlichen Rückenteil (linker oberer Quadrant) und der ersten und zweiten Zaddel neben der hinteren Schneppe blau markiert. Rechts neben der äußersten rechten blauen Linie zeigt sich die Ansatznaht des Rückenteils und rechts daneben heben sich in Braun die Stiche ab, mit denen die Zierborte außen aufgesetzt ist. Verliefen die Tunnel parallel zu dieser Borte, würden sie kaum noch bis in die erste Zaddel hineinlaufen.
Nach dem Zusammensetzen der einzelnen Schnitteile wurden zuerst die Zaddeln von außen mit Leder (bzw. Oberstoff, bei den jeweils ersten neben den Schneppen) bezogen und die Kanten des Leders (bzw. Oberstoffs) auf der Rückseite überwendlich befestigt. Der Oberstoff wurde zusammengesetzt und von außen aufgelegt. Die Vorderkante wurde nach innen umgeschlagen und vermutlich geheftet. Als nächstes dürfte die Unterkante des Oberstoffs nach innen umgeschlagen und mit kleinem Vorstich aufgenäht worden sein (Bild 2), denn während der folgenden Verarbeitungsschritte wäre sie sicher ausgefranst.
Nun wurden die Lederbesätze überwendlich aufgenäht, dann der Futterstoff daraufgesetzt. Dessen untere Kante wurde untergeschlagen und und mit Matratzenstich befestigt (Bild 4). Wegen der Fischbeinstäbe konnte man hier nur noch flach einstechen. Warum aber anders als beim Leder kein überwendlicher Stich zum Einsatz kam - wer weiß?
Das Kantenband faßt den Futterstoff und die Lederstreifen mit, kann also jetzt erst angebracht worden sein. Auch die Schnürösen an den Trägern gehen (Bild 5) durch alle Schichten und müssen daher gegen Ende gemacht worden sein.
Beim Stecker wurden offenbar die äußeren Stoffschichten zuerst angebracht, die Kanten auf die Innenseite umgeschlagen, und dann das Futter mit untergeschlagenen Nahtzugaben aufgesetzt. Nur entlang der Oberkante und ein kleines Stück um das Hörnchen herum ist das gleiche Kantenband aufgesetzt wie bei der Schnürbrust. (Bild 6)
Besonders interessant ist, daß in die Unterkante des Steckers eine Art
Tasche eingearbeitet wurde (Bild 7). Sie besteht aus weiß-blau gestreiftem
Stoff und ist nicht etwa mittig angebracht, sondern auf einer Seite der Mitte.
Ihr Zweck ist ein Rätsel. Da sie nach unten offen ist, würde so ziemlich
alles, was man hineinsteckt, herausfallen. Für alles, was dicker ist als
wenige Millimeter, ist sie zu eng. Die erste Idee eines Einschubs für ein
Blankscheit scheitert daran, daß (a) der Stecker auch ohne schon bretthart
ist, (b) das Blankscheit der Biegung des Steckers hätte folgen müssen,
(c) eine Blankscheit-Tasche normalerweise mittig sitzt.
Fotos
Alle Bilder und Grafiken dieser Seite dürfen für private und wissenschaftliche Zwecke heruntergeladen werden, und nur für diese Zwecke. Weiterveröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung. Für einige der Fotos danke ich Mariell Mettmann, die sicher auch etwas dagegen hätte, wenn ihre Bilder ungefragt sonstwo herumgeisterten.
Fürs Herzeigen und die Erlaubnis, den Schnitt abzunehmen, danke ich Alexander Wandinger und dem Trachteninformationszentrum Oberbayern.
1) Hutter, Ernestine. Adrett geschnürt: Schnür- und Steppmieder vom Rokoko bis zur Gegenwart aus der Sammlung des Carolino Augusteum. Salzburg, 1999.