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Nach der relativ einfachen Hose kommen wir nun zur Königsdisziplin.
Bevor Du die Teile zusammensetzt und damit eine recht unhandliche Menge an Stoff in der Hand hast, solltest du die Taschen im Vorderteil anbringen. Die Position der Taschen ist im Schnitt nicht angegeben: Die Oberkante der Klappe sollte ein wenig oberhalb des oberen Endes der Seitenschlitze sitzen, etwa in der Mitte zwischen Seitennaht und Vorderkante. Die Technik ist im Grunde die gleiche wie für moderne Anzugtaschen mit Klappe. Die Klappen werden mit demselben Futterstoff gefüttert wie der Rest des Justaucorps. Evtl. heftet man noch vor dem Einsetzen der Taschen mit unsichtbaren Stichen etwas Leinen hinter den künftigen Taschenschlitz, um ihn zu stabilisieren. Dann heftest Du noch einen 4-6 cm breiten Streifen festes Leinen an der Vorderkante entlang fest, die der Kante selbst und den Knöpfen/Knopflöchern Stabilität verleihen wird. Frühe Anzüge wurden über die ganze Fläche des Vorderteils mit steifendem Leinen oder Roßhaar hinterlegt; um 1750 (also zur Zeit dieses Schnittes) reichte die Einlage oben immerhin noch bis zur vordersten Kante des Armlochs (so daß man es dort in der Ärmelnaht festmachen kann) und geht von dort aus senkrecht abwärts. An der Oberkante des Tascheneinschnitts wird die Leineneinlage nochmal festgeheftet, danach hängt sie frei bis zum Saum.
Weitere Leineneinlagen empfiehlt Garsaults Standardwerk für die Querkante des Rückenteils in Taillenhöhe und am oberen Ende der seitlichen Schlitze (siehe Tafel 6). Befestige sie möglichst diskret. Entlang der senkrechten Kanten der seitlichen und des Rückenschlitzes sollten ebenfalls schmale Leinenstreifen eingeheftet werden. Später, beim gegenstaffieren des Futters, werden sie gleich mit festgenäht. All diese teilweise frei hängenden Einlagen sind der Hauptgrund, warum man den fertigen Anzug keinesfalls waschen sollte.
Damit wäre das Kleinzeug erledigt und die Teile können zusammengesetzt werden. Ein wenig kitzlig sind dabei nur die Einsätze beiderseits der hinteren Mitte: Die gerade Kante wird ans Rückenteil genäht, die gebogene bildet den Mittelschlitz. Eigentlich logisch: Die gebogenen Kanten überlappen einander und verhindern damit, daß der Poppes rausschaut. Es gibt durchaus erhaltene Anzüge, bei denen er rausschaut, aber man muß es ja nicht herausfordern... aus weiblicher Sicht ist ein Rokokoanzug auch so schon scharf genug. Der fast rechte Winkel an der oberen äußeren Ecke erfordert sehr genaues Nähen und einen Einschnitt in der Nahtzugabe des Rückenteils, damit der Stoff glatt fällt und die Ecke schön eckig wird.
Jetzt vielleicht noch eine Anprobe, um sicherzustellen, daß das Justaucorps weder zu eng noch zu weit ist. Es muß nur über dem Solarplexus so weit zugehen, daß man es knöpfen kann, aber das muß möglich sein, ohne daß sich Spannungsfalten bilden. Liegt der Rücken auch schön an? Dabei kann man auch gleich die Ärmel einpassen, sofern man sie vorher zusammengenäht hat. Die hintere Ärmelnaht sitzt 4-6 cm oberhalb der Naht zwischen Vorder- und Rückenteil. Stecke sie da fest und hefte dann unten um das Armloch herum, laß aber die obere Hälfte des Ärmels erstmal lose: Die steckst oder heftest Du von außen fest, während das Opfer das Justaucorps anhat. Die Ärmelnaht sollte dort sitzen, wo die Schulter in den Arm übergeht. Eine recht einfache Methode, diese Stelle zu finden, geht so: Steck den Arm seitlich aus, laß die Handmuskulatur locker, so daß sich die Finger ein wenig auf die Handfläche zu biegen, dann knicke den Arm am Ellbogen, bis die immer noch lockeren Finger auf die Schulter treffen. Dort, wo sie auftreffen, gehört die Ärmelnahta hin. Auf keinen Fall sollte die Schulter bis auf den Arm runterkippen, wie es bei einem modernen Jackett der Fall wäre, wenn man das Schulterpolster entfernte. Schulterpolster sind bei einem Justaucorps völlig fehl am Platz, oder sagte ich das schon? ;)
A propos: Falls keine größeren Änderungen und folglich auch keine weiteren Anproben nötig sind, wird auch gleich die Auspolsterung angebracht, während der gemeinte Träger das Justaucorps noch anhat. Die Auspolsterung liegt aber nicht etwa auf den Schultern, wie man es heutzutage erwarten würde, sondern fängt überhaupt erst unterhalb derselben an: Im Bereich des Schlüsselbeins ergibt sich normalerweise eine mehr oder minder große Grube zwischen Schulter und Brustmuskulatur, die durch die Wattierung ausgefüllt wird. Bei schwach ausgeprägter Brustmuskulatur ersetzt die Wattierung auch diese. Zieh den Woll- oder Watteklumpen zu einem flachen Kissen auseinander, das an den Rändern dünner wird. Steck es zwischen Oberstoff und Leineneinlage und schau, ob sich nun eine glatte Linie von der Schulter zur Brust ergibt. Wenn nicht, zieh und zupfe weiter an der Watte, stecke mehr rein oder nimm weg, bis es soweit ist. Die Wattierung muß da aufhören, wo die Knöpfe/Knopflöcher anfangen. Zieh dann sehr vorsichtig das Justaucorps aus, so daß die Wattierung nicht verrutscht, und hefte sie locker an der Leineneinlage fest. Hefte die äußere Kante des Leinens am Armloch fest.
Nun wird das Futter eingesetzt, dessen Schnitt genau dem des Justaucorps folgt. Setze es ebenso zusammen wie dieses und fang in der hinteren Mitte des Halsausschnitts an, es am Oberstoff festzustecken. Am besten knickst Du zuerst die Nahtzugabe im Oberstoff um und steckst bzw. heftest sie so fest, und steckst dann das Futter mit umgeknickter Nahtzugabe darauf. Nimm einen Baumwoll- oder Seidenfaden in der Farbe des Oberstoffs und näh das Futter von der Innenseite her knapp innerhalb (1-2 mm) der Kante mit Saumstichen fest, die gerade so bis auf die Außenseite durchgehen. Von innen sieht man fast nichts, von außen hingegen sieht es wie sehr kleine Heftstiche aus. Das ist die übliche Nähtechnik für alle Kanten, bei Garsault point à rabattre sous la main genannt. Einen deutschen Begriff dafür kenne ich nicht, da diese Technik ausstarb, bevor das erste deutsche Schneidereilehrbuch auf den Markt kam. Man könnte auch so nähen, daß die Stiche gerade nicht bis außen durchgehen, aber dann würde man evtl. die Leinenstreifen nicht richtig mitfassen und riskieren, daß die Kanten sich umbiegen - besonders, wenn der Oberstoff Wolle ist, die Knicke nicht halten kann.
Bild 1: Anzug von ca. 1765 |
Wenn Du den Oberstoff eine Weile herumgezogen hast, das Futter aber eben erst zugeschnitten, dann kann es sein, daß sich der Oberstoff schon "ausgehängt" hat, das Futter aber nicht. Teile mit runden Saumkanten machen sowas gern: Je nachdem, wie der Winkel zwischen Saum und Fadenlauf ist, dehnen sie sich an manchen Stellen stärker nach unten, je nach Faser und Webart mehr oder weniger. Das Futter hatte dazu noch keine Gelegenheit, und selbst wenn es die hatte (wenn Du nämlich meinen früheren Rat befolgt und das Futter sofort zugeschnitten und aufgehängt hast), ist nicht sicher, daß es sich auf die gleiche Weise ausgedehnt hat wie der Oberstoff. Das soll nicht heißen, daß Du den Oberstoff möglichst nicht herumhängen lassen sollst, denn dieses Aushängen passiert bei Stoffen, die dazu neigen, sowieso: Wenn nicht jetzt, dann nach der Fertigstellung beim Tragen bzw. auf dem Kleiderbügel. Wenn Du nicht in Eile bist, sollstest Du das ganze Justaucorps mit dem nur an der Vorder- und Halskante befestigten Futter noch ein wenig auf der Schneiderpuppe oder einem Bügel hängenlassen. Ein paar Tage sollten reichen, aber ein paar Wochen sind besser. Ein Schneidereibuch aus den 60er Jahren¹ rät für Teller- und Glockenröcke, den Saum dabei mit Wäscheklammern zu beschweren.
Vielleicht wendest Du Dich der Weste oder Hose zu, während das Justaucorps aushängt. Die moderne Art, das Saumproblem zu umgehen, ist, Futter und Oberstoff am Saum getrennt zu versäubern und beide nur hie und da lose aneinander zu befestigen. Das war aber im 18. Jh. nicht üblich: Damals wurden die beiden Lagen gnadenlos aneinenander angenäht. Ein loser Saum würde wahrscheinlich den Fall der Falten stören. Hänge am Ende des Aushängens das Justaucorps auf eine Puppe oder das Opfer und justiere, falls nötig, die Saumlänge von Oberstoff und Futter. Insgesamt sollte der Saum in Relation zum Boden ebenso gerade sein wie der Saum eines Frauenrockes.
Nach der Aushängeperiode leg das Justaucorps so auf dem Boden aus, daß das Vorterteil zumindest von der Taille abwärts flach aufliegt, Futter nach oben. Streiche das Futter auf dem Oberstoff glatt und stecke oder hefte es entlang der Unterkante 4-5 cm von der Kante entfernt grob an. Ebenso mit den Rückenteilen. Biege die Schnittkanten der Seitenschlitze entlang der eingezeichneten Schnittkanten um und hefte sie so aufeinander, wie Du es bei der Vorderkante gemacht hast. Wie bei der Vorderkante ist es sinnvoll, aber nicht unbedingt nötig, entlang der Schlitzkanten einen Leinenstreifen mitzufassen, der dem Schlitz zusätzlichen Halt verleiht.
Bild 2: Anzug von ca. 1720 |
Nun werden die Falten eingelegt, und zwar in Oberstoff un Futter zusammen. Wo wieviele Falten eingelegt werden, kommt auf den gewählten Schnitt an. Im hier vorliegenden Fall legt man eine Falte ins Vorderteil: Der äußere Bruch verläuft von der Seitennaht leicht schräg auswärts; die Schlitzkante liegt auf dem Bruch. Im Rückenteil legt man zwei Falten ein: Rein, raus, rein, raus. Und dort, wo im Rücken die Einsätze angebracht wurden, wird noch eine Falte eingelegt, so daß der äußere Bruch auf die Naht zwischen Rückenteil und Einsatz zu liegen kommt. Oben am Schlitz werden die Falten lose durch alle Lagen zusammengefangen, unten nur die zwei äußersten Lagen. Dort wurde oft noch ein Knopf angebracht, manchmal auch auf halbem Weg dazwischen (Bild 1). Bei frühen Anzügen (d.h. vor 1740) findet man oft noch beiderseits des Mittelschlitzes blinde Knopflöcher (Bild 2).
Bild 3: Anzug von ca. 1755-65 |
Nun zu den Ärmelaufschlägen. Nähe die beiden Teile je aus Oberstoff und Futter getrennt zu einer Röhre. Nach meiner Erfahrung sollte selbst bei steifen Materialien eine Zwischenlage aus Steifleinen oder Roßhaar mitgefaßt werden, die Du im Folgenden mit dem Futter als eine Lage behandelst. Lege Oberstoff und Futter rechts auf rechts aufeinander und nähe sie entlang der Oberkante zusammen. Bügle die Naht kräftig um. Streiche beide Lagen aufeinander glatt, biege die Unterkanten jeweils gleich weit nach innen, so daß die Brüche aufeinanderliegen, und hefte sie einige Zentimeter einwärts der Unterkante aufeinander fest. Zwischen diese beiden Lagen wird nun die Unterkante des Ärmels gesteckt: Das Futter auf die rechte Stoffseite des Ärmels. Die kürzere, leicht gebogene Naht des Aufschlags liegt an der vorderen Ärmelnaht. Am besten nähst Du den Oberstoff von der einen, das Futter von der anderen Seite mit Saumstichen in der jeweils passenden Farbe fest. Der Aufschlag muß nicht direkt in der Ansatznaht nach oben gefaltet werden, sondern sollte im Gegenteil ein wenig länger sein, d.h. die Ansatznaht liegt etwas oberhalb der unteren Ärmelkante.
Der Aufschlag wird von 4-6 Knöpfen in der richtigen Position gehalten, die auf blinden Knopflöchern sitzen. Meistens waren es vier Knöpfe: Einer auf der Innenseite, knapp 2 cm von der Naht entfernt, einer spiegelbildlich auf der anderen Seite der Naht, und dann noch zwei weitere nach außen hin (Bild 3). Das Knopfloch sollte etwa so weit unter der Oberkante anfangen, wie der Knopf Durchmesser hat, und etwas länger sein als der Knopfdurchmesser. Es wird genau wie ein normales (Hand-)Knopfloch gemacht, nur daß der Schlitz nur angezeichnet wird, nicht aber eingeschnitten. Deshalb ist es wichtig, den nichtvorhandenen Schlitz möglichst genau anzuzeichnen, damit das Knopfloch auch wirklich gerade wird.
Bild 4: Anzug um 1735 |
Erst wenn alle Knopflöcher genäht sind, wird der Aufschlag umgelegt und um die Knopflöcher herum auf dem Ärmel festgesteckt. Dann werden die Knöpfe durch alle Lagen aufgenäht, so daß sie den Aufschlag auf dem Ärmel festhalten. Evtl. ist es sinnvoll, Ärmel und Aufschlag nochmal "unsichtbar" entlang der Unterkante zusammenzunähen, damit sich das Ärmelfutter nicht nach außen umbiegt. Ansonsten ist der Aufschlag damit fertig. Laß Dich nicht von modernen Sehgewohnheiten verleiten, den Aufschlag dort, wo er weiter als der Ärmel ist, zuzunähen: Er muß er auf der Rückseite des Armes lose hängen. Daß er dabei das Futter präsentiert, is völlig normal. Es gibt sogar erhaltene Anzüge, bei denen das Futter dort, wo es sichtbar wird, bestickt ist - ein sicheres Zeichen, daß es sichtbar sein durfte und sollte. Deshalb ist bei einem ansonsten mit Leinen gefütterten Anzug zu überlegen, ob man nicht am Ärmelaufschlag quasi das Leinenfutter zur Zwischeneinlage degradiert, indem man eine Lage aus dekorativerer Seide auflegt. Gemusterte Seide erscheint mit dafür ungeeignet, aber einfarbiger Taft oder Satin wäre denkbar. Wenn man das macht, sollte man auch die Taschenklappen mit der gleichen Seide füttern.
Mit Knopflöchern geht es weiter: Ungefähr zwischen Mitte des Brustbeins und Nabel sollte man das Justaucorps zuknöpfen können, auch wenn es sehr unüblich ist, es geschlossen zu tragen. Dort werden in der linken Seite also echte Knopflöcher gemacht; der Rest ist blind. Je nach gewählter Fasson kann man es mit 10-12 Knopflöchern zwischen Hals und Taschenhöhe bewenden lassen, oder man führt sie bis zum Saum hinunter. Vor 1740 gehen die Knopflöcher und Knöpfe eher bis zum Saum (Bild 4), nach 1750 enden sie oft schon auf Hüfthöhe. Die Knöpfe sitzen auf der rechten Seite. Das oberste Knopfloch sitzt etwas unterhalb der Kurve, wo der Halsausschnitt in die (ungefähre) Senkrechte übergeht. Der Abstand ist Geschmackssache. Es sieht am besten aus, wenn der Knopfabstand etwa das Doppelte des Knopfdurchmessers oder etwas weniger beträgt.
An das obere Ende der beiden seitlichen Schlitze wird je ein Knopf gesetzt,
unter die drei Spitzen der Tasche jeweils einer. Bei frühen Exemplaren
sind auch fünf Knöpfe möglich. Bis ca. 1750 sollten die Taschen
zumindest theoretisch zuknöpfbar sein, d.h. die Taschenklappe hat so viele
senkrechte Knopflöcher, wie es Knöpfe gibt, und die Knöpfe sitzen
dementsprechend relativ hoch, aber immer noch zu tief, um die Tasche wirklich
zuknöpfen zu können. Sie spitzen gewissermaßen unter der Klappe
hervor. Später sieht man es öfter, daß die Klappe keine Knopflöcher
hat und die Knöpfe, zur bloßen Zierde degradiert, etwas unterhalb
sitzen.
1) Kunder, Lieselotte. Schneidere selbst. Freiburg i.B.:
Herder, 1966
Nächster Schritt: Die Weste
Wednesday, 15-May-2013 23:52:42 CEST