Teil 8: Schnittvariationen
Der bisher verwendete Schnitt ist, wie schon gesagt, für die Zeit bis ca. 1760 geeignet. In den 60ern wurde das Vorderteil zweigeteilt, d.h. es gab eine Taillennaht, und die Seitennaht rutschte weiter nach hinten. Der Schnitt, für den ich diese Seiten ursprünglich verfaßt hatte, hat diese Form. Noch etwas später wurde sogar das Rückenteil ein wenig eingeschnitten, um eine noch stärkere Taillierung zu ermöglichen.
Eine Möglichkeit, den Grundschnitt auf andere Epochen zu übertragen, ist die Behandlung der Ärmelabschlüsse: Die im Schnitt angegebenen Volants sind für ca. 1750-70 geeignet; davor waren "Flügel" üblich, wie sie auf einer früheren Seite beschrieben sind.
Zwei recht leicht zu machende Variationen möchte ich erwähnen, weil sie nötig sind, um den Schnitt an verschiedene Modestile anzupassen. In den Skizzen oben siehst Du, wie einfach das ist: rechteckige Teile verbreitern, weiter nichts.
1. Frühe Formen (ca. 1720-40)
Wie in der Einleitung erwähnt, waren die frühen Contouches lose herabhängende,
nicht taillierte Gewänder (Ladenschild
des Ghersaint), die vorn z.T. bis zur Brust geschlossen waren oder (in den
30ern) von der Taille aufwärts offen
waren, aber nicht festgesteckt. Da der Schnitt vorn sowieso gerade ist,
braucht man dafür die Form nicht anzupassen. Aber der Rock in unserem Schnitt
klafft ja vorn auf - also ist etwas mehr Weite nötig, damit er vorn zugeht,
ohne zu spannen. Die kommt aus zwei
(später nur noch einer) Falten im Vorderteil. Also machen wir das Vorderteil
breiter, und zwar um ca. 20-25 cm. Der Faltenteil im Rücken war in dieser
frühen Zeit breiter (er bedeckte die ganze Rückenbreite), also geben
wir dem Rückenteil in der hinteren Mitte auch ein wenig zu, so 5-10 cm.
Vorn wie hinten wandert diese zusätzliche Weite einfach in mehr bzw. tiefere
Falten, die aber nicht am Futter angeheftet werden, sondern vorn wie hinten
lose hängen.
Der Ärmel hatte bis ca. 1730 mehrere senkrechte
Falten, also muß der Ärmel entsprechend weiter geschnitten und
vor dem Einsetzen in Falten gelegt werden. Schneide also das Papier-Schnitteil
da, wo die Ecke in der Ärmelkugel ist, der Länge nach auf und setze
einen Streifen ein. Wie breit der Streifen sein muß, weiß ich auch
noch nicht. Ich würde mal 15-20 cm schätzen.
Die entweder Runden oder ovalen Paniers dieser Zeit wirken sich auf den Saum
aus. Wie genau, kann ich nicht sagen - ich habe den Saum nur experimentell bestimmt.
Dabei hatte ich das Glück, daß meine Robe vorn bis zur Taille zugenäht
war, also keine Jupe brauchte. Wie man bei einer Jupe über einem solchen
Panier die Länge nach der historischen Methode (siehe vorige
Seite) justiert, müßte noch ausprobiert werden.
2. Breite Paniers
Das betrifft zum einen Roben der 1740er, als breite Paniers "in"
waren, zum anderen zeremonielle/höfische Roben späterer Zeiten, die
weiterhin mit breiten Paniers getragen wurden. Das erfordert also Änderungen
am Rock. Alle anderen Merkmale (Flügel oder Volants, Taillennaht oder nicht,
Garnitur oder nicht etc.) sind aber so, wie sonst zur jeweiligen Zeit üblich.
Eine Robe um 1740 herum z.B. hat noch eine senkrechte Falte im Vorderteil, Flügel,
und ist evtl. vorn geschlossen.
Wie muß also der Rockteil aussehen? Weiter natürlich. Also geben
wir dort, wo der Schnitt die Seitennaht des Rockteils hat, Weite zu. Wieviel
das ist, kommt auf die Breite des Paniers an. Miß das Panier von Seitennaht
zu Seitennaht - so breit muß das Rückenteil sein, ebenso die beiden
Vorderteile zusammen, und dazu noch ein bißchen, damit der Saum nicht
spannt. Gib hinten besonders großzügig zu, damit die Watteaufalten
untenrum nicht seitwärts weggezogen werden.
Aber auch beim Einlegen der Rockfalten gibt es Unterschiede. Bisher haben wir
ja die Falten in der Seitennaht gelegt, aber bei einem breiten Panier würden
sie entweder hinten oder vorn vom Panier runterrutschen, und dann stimmt die
Saumlinie nicht mehr und das ganze Kleid verzieht sich. Also muß der Rock
von der Taille aus der Form des Paniers folgen und die Weite der Falten erst
da aufspringen, wo das Panier mehr oder minder senkrecht abfällt. Am besten
sieht das aus, wenn die Falten nicht Ziehharmonikaartig gelegt werden, wie bisher,
sondern fächerförmig. Bei Arnold
gibt es eine schöne Skizze, die zeigt, wie genau man das macht.
Skizze: Breite und schmale Paniers Bei einem schmalen Panier springen die Falten aus der Taille auf. Die ganze Oberkante des Rockteils wird in Falten gelegt und innen an der Seitennaht des Oberteils befestigt. |
Bei einem breiten Panier ergibt sich eine Falte an der Taille; der Rest fächert erst an der Außenkante des Paniers auf. Der Rockteil ist breiter und läuft ein Stück weit auf dem Panier entlang. Der Taschenschlitz liegt auf der Oberkante des Paniers. Die Jupe wird entsprechend gemacht. |
3. Jacken
Unter Namen wie Pet en l'air (frz: Pups in der Luft) oder Casaquin
à la Française gab es hüft- bis fast knielange Jacken,
deren Schnitt und Herstellung genau dem der Robe entspricht, nur daß er
eben kürzer ist. Nur auf den Saum muß man achtgeben: Auch eine Jacke
ist hinten etwas länger als seitlich und vorn. Der Stoffverbrauch berechnet
sich wie bei einer lange Robe, nur daß nicht das Maß der Körperhöhe
gilt, sondern das Maß von der Schulter bis zum gewünschten Saum.
4. Geschnürtes Futter
Eine recht praktische Variante ist die, bei der in das Futter vorn eine Schnürung eingearbeitet ist. Bei Ausstellungssstücken sieht man das leider nur sehr selten, aber vor allem sieht man nie, wie genau das gemacht ist.
Bildbeispiel 1, Bildbeispiel 2
Schneidereitechnisch erscheint es mir am wahrscheinlichsten, daß an die Innenseite des vorderen Futters ein gedoppelter Streifen Futterstoff angesetzt wurde, und zwar einige Zentimeter von der Vorderkante entfernt oder gar an der Seitennaht - weit genug weg jedenfalls, damit der Stecker in voller Breite auf die Schnürung paßt. Man hat also vorn ein zweigeteiltes Futter: Eine Schicht, die wie in der bisherigen Anleitung das Vorderteil versteift und in Form hält, und darunter eine zweite Schicht. In die Vorderkante dieser zweiten Schicht wird eine Schürung gemacht, sehr wahrscheinlich mit einem Fischbeinstab zwischen Schürung und Vorderkante. Damit kann man die Robe vorn zuschnüren, bevor man den Stecker aufsetzt, und so vermeiden, daß der ganze Zug auf die Vorderkante des Oberstoffs wirkt und ihn so um die Stecknadeln (mit denen man die Vorderkante auf dem Stecker befstigt) herum allmählich ausleiert. Da die Schnürung vom Stecker verdeckt wird, kann sie über die Vorderkante der Robe hinausragen, aber bei den mir bekannten Beispielen tat sie das nicht oder nur minimal. Eine Schnürung "Kante auf Kante" ist es jedenfalls nicht.
5. Compère
Die Compère ist eine Art falscher
Stecker, der in der vorderen Mitte zugeknöpft wird. Das ist beim Anziehen
äußerst bequem, aber das früheste mir bekannte Beispiel ist
ein Liotard-Bild von 1753.
Compères findet man am häufigsten bei eher informellen Roben zwischen
1755 und 1770. Man macht die Compère von der Form her wie einen Stecker,
richtet aber in der vorderen Mitte einen Knopfschluß ein. Sie wird auch
nicht so sehr versteift wie ein Stecker. Die wichtigste Versteifung sollte zwischen
Vorderkante und Knöpfen/Knopflöchern liegen, damit sich die Vorderkante
nicht durch den seitlichen Zug wellt. Die Außenkanten der Compère
werden innen an das Futter genäht. Am besten macht man die eigentliche
Naht einige Zentimeter von der Vorderkante der Robe entfernt, befestigt die
Compère aber noch einmal direkt an der Kante, da die Kante sonst absteht.
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