Planung eines Anzugs (1870-1900)

 

Der Anzug oder die Toilette der 1870er-90er besteht aus einer Taille und einem Rock. Heute würde man Kleid dazu sagen, aber dieser Begriff ist so von modernen Assoziationen besetzt, daß ich ihn möglichst nur in Zusammensetzungen wie "Tournürenkleid" verwende. Anzug und Toilette sind die zeitgenössischen Begriffe.

Im folgenden soll es vor allem um die Auswahl und Zusammenstellung der Farben und Stoffe gehen, die im betrachteten Zeitraum eigenen Regeln folgte, die sich einem modernen Betrachter nicht auf Anhieb erschließen. Ich will nicht behaupten, daß diese Regeln unumstößlich waren und damals immer befolgt wurden – Exzentriker und Geschmacksverirrte gab es auch damals – oder daß ich diese Regeln völlig durchdrungen habe. Aber wenn man sich beim Fertigen eines historischen Kleidungsstücks an diese Regeln hält, stehen die Chancen gut, daß das Ergebnis ein glaubwürdiges Abbild der Epoche ergibt.

Soziale Schicht

Sofern Du nicht einen Anzug für wohlhabendes Bürgertum und darüber fertigen willst, sind die folgenden Ausführungen eher uninteressant. Mit der Mode zu gehen, erforderte eine nicht geringe Investition: Hoher Stoffverbrauch, teure Garnituren, mehrere Kleider für verschiedene Anlässe (Hauskleid, Besuchskleid, Promenadenkleid, Gesellschaftskleid...), und das alles alle Naslang neu. Wer sich nicht viel leisten konnte, ließ sich alle paar Jahre ein "gutes" Kleid machen, das zeitlos genug war, um eine Weile (10 Jahre oder mehr) zu halten, und trug für Alltags etwas noch zeitloseres. Viel Garnitur war da nicht drin, weil a) die Garnitur selbst teuer war, b) die Arbeitszeit für die Anbringung derselben, und c) sie allzu sehr der Mode unterlag. An Farben für das "gute" Kleid standen der unteren Mittel- und Unterschicht, überspitzt gesagt, schwarz, schwarz und schwarz zur Auswahl: Das paßte immer, für Visite, Kirchgang und Hochzeit. Vom einfachen Volk wurde nicht viel Geschmack erwartet, so daß man sich über die Auswahl der Farben und Stoffe nicht viel Gedanken machen muß: Wenn die Stoffe eher billig sind (z.B. Baumwolle in Uni und Druck, Wolle) und die Zusammenstellung nicht ganz dem modischen Ideal der Zeit entspricht, ist das völlig in Ordnung.

Im Folgenden gehe ich von einem Anzug für Wohlhabende aus.

Modelinie

Zunächst mußt Du Dir anhand von Gemälden und/oder Modekupfern eine Modelinie aussuchen. Die hohe Taille und große Tournüre von 1873/74? Der frühe Küraß mit hinten ausgestelltem Rock von 1776/77? Der späte Küraß mit rundum engem Rock um 1879/80? Die kleine Späte Tournüre von 1882/83 oder die große von 1884/85? Undsoweiter... Davon hängt es ab, ob Du eine Rockstütze brauchst und welche, welche Form der Unterrock haben muß, die Machart des Korsetts (kurz oder lang, gerades oder Löffelplanchet) und vor allem, welchen Schnitt Du wählst.

Auch, wenn es Dich noch so sehr juckt, Stilelemente verschiedener Modelinien zu mischen: Laß es bleiben! Es würde niemals ein stimmiges Bild ergeben und selbst für einen ungeübten Betrachter "irgendwie falsch" aussehen.

Farbe und Stoff

Die Wahl der Farben und Stoffe ist gerade für die Gründerzeit sehr wichtig und kann, wenn man nicht aufpaßt, zu schrecklich unglaubwürdigen Ergebnissen führen. Daher sollte man den Vorbereitungen einige Aufmerksamkeit widmen und sich evtl. für den Anfang ein bestimmtes Modekupfer zum Vorbild nehmen, bis sich durch Betrachtung vieler, vieler Kupfer das Stilgefühl für die Epoche eingestellt hat. Für Fortgeschrittene können auch die zeitgenössischen Hinweise der Johanna von Sydow hilfreich sein.

Auf den meisten Modekupfern sieht man zwei verschiedene Hauptfarben, die in unterschiedlicher Weise kombiniert sein können. Mal ist das Kleid einfarbig und mit andersfarbiger Garnitur abgesetzt, ein andermal haben Rock und Taille je zwei Farben. So könnte z.B. der Rock hellblau sein, die Schürze darauf dunkelblau und die Taille dunkelblau mit hellblauen Garnituren. Wichtig ist, daß Rock und Taille jeweils beide verwendeten Farben enthalten, so daß ein durchgängiges Gesamtbild entsteht. Bestünde der ganze Rock nur aus einer Farbe und die Taille aus einer anderen, sähe der Anzug nicht mehr wie ein zusammengehöriges Ganzes aus.

Denkbare und nachgewiesene Kombinationen wären z.B. eine helle und eine dunkle Schattierung des gleichen Farbtons oder zwei völlig verschiedene, aber harmonierende Farbtöne – wobei die damalige Vorstellung von "harmonierend" durchaus von der heutigen abweichen kann. In den 1860ern z.B. waren in Schokoladenbraun und Ultramarinblau gewebte Stoffe ziemlich beliebt. Man kann auch einen unifarbenen Stoff mit einem gemusterten kombinieren, wobei das Muster den Uni-Farbton wieder aufnehmen sollte.

Des öfteren sieht man auf Kupfern auch Kleider in nur einem Farbton. In diesem Fall wurden aber meist zwei verschiedene Stoffe kombiniert, z.B. Taft mit Damast, schimmernde Faille mit mattem Samt, glänzender Atlas mit mattem Chiffon etc. Der Glanz-Matt-Kontrast ist auch geeignet, wenn der gleiche Farbton in hell und dunkel verwendet wird, während er bei völlig verschiedenen Farben seine raffinierte Wirkung verliert und unharmonisch wirkt. Faustregel: Je stärker der Farbkontrast, desto geringer der Stoff-Kontrast und umgekehrt.

So spielt neben der Wahl der Farben auch die der Stoffe eine Rolle. Die meisten Anzüge der Zeit kombinieren zwei Stoffe:

Falls drei Stoffe kombiniert werden, haben meistens zwei davon die gleiche Farbe. Auf Modekupfern sieht man deshalb meist nur zwei verschiedene Farben. In der Realität hingegen hätte man z.B. einen glänzenden (Taft, Faille) und einen matten (z.B. Kaschmir, Wolle) gleicher Farbe gesehen, abgesetzt mit einer weiteren Farbe. Drei wirklich verschiedene Farben sieht man äußerst selten, und wenn, ist die dritte Fabe meist nur Teil eines gemusterten Stoffes, dessen Hauptfarbe eine der Farben des Anzugs wieder aufnimmt.

Auch wenn Modekupfer fast immer zweifarbige Kleider vorschlagen, findet man unter den erhaltenen Stücken doch recht häufig einfarbige, die von Kopf bis Fuß aus dem gleichen Stoff bestehen. Das könnte daran liegen, daß es auch damals schon unheimlich schwer war, zwei wirklich zusammenpassende Stoffe zu finden. Verzage also nicht, wenn Du zu Deiner beigen Faille keinen beigen Surah findest! ;)

Nun zu den verwendbaren Stoffarten. Für den Hauptteil von Taille und Rock sollte der Stoff eher kräftig und nicht zu fließend sein. Für die Garnitur (d.h. Volants, Rüschen, Drapagen, Kragen- und Manschettenbelege etc.) hingegen sind auch sehr dünne Stoffe geeignet.

Für wirklich feine Kleider war in der Zeit um 1870-1900 Faille einer der Favoriten, d.h. eine gerippte Seide. Im Handel gesehen habe ich sie allerdings noch nicht. Schwerer Taft ist ein weiterer Favorit und auch manchmal gerippt, aber nicht so sehr wie Faille. Atlas (heute meist als Duchesse-Satin im Handel) ist ebenfalls geeignet, ebenso köperbindige Seidenstoffe wie z.B. Surah. Eher dünne Wollstoffe wie Kaschmir und Serge wurden oft für die kühlere Jahreszeit verwendet. Samt fand aus irgendeinem Grund eher für Belege als für den Hauptteil Verwendung. Baumwolle spielt in Modeberichten und Modekupfern ebensowenig wie bei erhaltenen Stücken eine Rolle. Von weniger Wohlhabenden, die nicht die Zielgruppe der Journale waren und deren Kleider eher aufgetragen als erhalten wurden, dürfte sie für sommerliche Ensembles trotzdem verwendet worden sein. Für Frühjahr, Herbst und Winter herrschten in dieser Schicht wahrschdeinlich eher Wollstoffe vor.

Als Garnitur wurden alle obengenannten verwendet. Dazu kamen dünnere, empfindliche Stoffe wie Musselin, Gaze und Spitze, die aber wegen ihrer Empfindlichkeit eher für Gesellschafts- und Abendtoiletten verwendet wurden als für Promenaden- oder Besuchskleider.