Diese Anleitung ist als Zusatz zur grundlegenden Anleitung gedacht und setzt die Lektüre (genauer: das Verständnis) selbiger voraus. Dort ging es um die Anfertigung einer halbsteifen Schnürbrust aus zwei Schnitteilen, mit Trägern, die Tunnel unsichtbar oder wahlweise sichtbar. Hier geht es um eine vollsteife Schnürbrust aus fünf Schnitteilen, ohne Träger, mit sichtbaren Tunneln. Damit ist wohlgemerkt nicht gesagt, daß man die diversen Merkmale nicht auch anders kombinieren kann: Mit ein wenig Transferleistung ist es durchaus möglich, eine vollsteife zweiteilige Schnürbrust zu machen, eine halbsteife fünfteilige, jeweils mit oder ohne Träger etc.
Der fünftteilige Schnitt eignet sich allerdings besser für vollsteife Schnürbrüste als der zweiteilige: Die schrägen Stäbe und die Neigung der Zaddeln beim zweiteiligen Schnitt verhindern, daß man die Stäbe so schön parallel nebeneinanderschachteln kann wie hier.
Bevor Du Dir die viele Arbeit machst, die in einer vollsteifen Schnürbrust zwangsläufig steckt, solltest Du schon mal an einer einfacheren, halbsteifen Variante geübt, sie probegetragen und die neuralgischen Punkte kennengelernt haben. Ich habe an meinem vollsteifen Erstling immerhin ungefähr 150 Stunden (d.h. fast drei Monate) gearbeitet, wenn nicht mehr. Wenn man sich schon so viel Arbeit macht, dann sollte man beim Material nicht zu Lasten der Anthentizität sparen, sondern gleich das Beste nehmen: Gutes, evtl. gar antikes Leinen, feine Seide oder reine, hochwertige Wolle und Seiden- oder Leinennähgarn. Multipliziere die 150 Arbeitsstunden mal mit dem, was Du als einen vernünftigen Stundenlohn betrachtest: Da können die Materialkosten doch nur abstinken, oder?
A propos Authentizität: Anders als bei der halbsteifen Variante gehe ich bei der vollsteifen selbstverständloch davon aus, daß du komplett handnähst. Mal abgesehen davon, daß man es den sichtbaren Tunnelnähten ansähe, wenn sie maschinengenäht wären, ist es auch ungeheuer schwierig, so viele so schmale Tunnel mit der Maschine so gerade zu nähen, daß sich keine Engstellen ergeben, durch die man die Stäbe kaum noch schieben kann. Schließlich ist eine vollsteife Schnürbrust nicht nötig, wenn es nur darum geht, die richtige Körperform zu erreichen, d.h. es gibt für jemanden, der auf Authentik keinen Wert legt, keinen triftigen Grund, eine vollsteife Schnürbrust zu machen (ausgenommen vielleicht bei sehr großen Größen).
Wie im Grundteil beschrieben, davon abweichend:
Fischbein 20-25 Meter bei 5 mm Breite; die 25 Meter beziehen sich auf ungefähr Konfektionsgröße 42-44. 6 oder 7 mm breites Fischbein geht auch - dann natürlich etwas weniger - , aber das Ergebnis sieht umso besser aus, je schmaler die Stäbe sind. Genauere Angaben zu Art und Menge des Fischbeins v.a.für extreme Figuren habe ichauf eine extra Seite ausgelagert. Versäuberungsband geschätzt 2,5-3 Meter. Taft- oder Ripsband aus Seide, wie man es im 18. Jh. verwendete, ist heute kaum noch zu kriegen, und wenn, dann nur zu astronomischen Preisen. Gut, wie gesagt, im Vergleich zu den Arbeitskosten.... Aber man muß es ja nicht übertreiben. Man kann sich aus dem Oberstoff Schrägband schneiden, sofern man genug davon übrighat, muß aber erstmal die Kanten umbügeln. Eine weniger arbeitsintensive, zeitgenössische Variante ist Leder. Das hat den Vorteil, daß die Schnittkante nicht weggebügelt werden muß: Sie bleibt, wie sie ist, schließlich kann Leder nicht ausfransen. Das Leder muß aber möglichst dünn und hell (weiß, hellgrau, creme, hellbeige) sein. Im Fachhandel (Lederladen oder Buchbinderbedarf) frage man nach Ziegen- oder besser Zickleinleder - das ist heute die einzige Sorte, die dünn genug ist. Velours oder glatt? Egal, es gab beides. Eine halbe Haut (bei erwachsener Ziege) sollte reichen. Die ganze Haut Ziegenvelours kostete mich ca. 18 Euro. Ersatzweise geht vielleicht Fensterleder, sofern es wirklich aus Leder ist; das ist aber meistens nicht so haltbar und von weniger gleichmäßiger Dicke/Steifheit, so daß man doppelt so viel Haut braucht. Es gibt spezielle Ledernadeln, aber ich bevorzuge normale, sehr dünne (Perlstick-) Nadeln: Die gehen, weil sie so dünn sind, ebenso gut durch das Leder, machen aber kleinere Löcher, so daß man dicht an der Schnittkante nähen kann, ohne Angst haben zu müssen, daß man den Rand ausreißt.
Nähgarn für die sichtbaren Tunnel sollte dicker sein als heute gebräuchliches und, wie das Versäuberungsband, farblich mit dem Oberstoff harmonieren. Besonders schön ist es, wenn Band und Garn die gleiche Farbe haben, aber zum Oberstoff kontrastierend. Solch dickes Garn, wie man es damals verwendete, ist heute kaum noch zu finden. Man kann Knopflochseide nehmen, aber die ist ganz schön teuer. Leinengarn der Stärke 30/2-40/3* ist von der Dicke und Authentik her optimal, aber farbiges ist schwer zu finden. Frag mal bei Reenactors, auch wenn es nicht im Katalog steht, oder schau im Klöppelbedarf (siehe Bezugsquellen). Bei Stärke 30 werden ca. 25 g benötigt; bei Stärken über 30 weniger. Stärken über 50 wären zu dünn.
Da sichtbare Tunnel von außen genäht werden müssen, um sicherzustellen, daß sie nicht windschief werden, müssen sie auch von außen aufgezeichnet werden. Andererseits dürfen die Linien nach getaner Arbeit nicht stören - und irgendwo schauen sie immer raus. Besonders gut geeignet sind "magische" Stifte, deren Linien irgendwann von allein verschwinden, wie man sie im Dunstkreis der Seidenmalerei findet. Auf meinem steht "Sublimatstift", Marke Javana; je nach Stoff verschwindet die Linie nach 1 Std. oder später. Man sollte damit also nicht allzu viele Linien auf einmal malen. Am zweitbesten sind - für helle Oberstoffe - weiche, gut gespitzte Bleistifte, deren Linien man auch noch relativ leicht wegkriegt - und falls nicht, stören sie normalerweise nicht besonders. Gib ein paar Cent mehr für Markenware aus: Weiche Bleistifte brechen relativ leicht, wenn man sie stark anspitzt, und billige erst recht. Für dunkle Oberstoffe gibt's neuerdings von hoechstmass Stifte, in die man Schneiderkreide-Minen einsetzen kann. Das Anfangsset enthält neben dem Stift auch einen Spitzer. Sowas habe ich mir schon lange gewünscht, also kauft es bitte fleißig, damit es im Programm bleibt! ;)
Einen richtigen Schnitt kann ich leider nicht liefern, denn bisher habe ich dafür nur Vorlagen, die unter Urheberrecht fallen. Mit etwas Glück kann ich eines Tages den Schnitt von einem Originalteil abnehmen; bis dahin arbeite ich mit dem Schnitt von J.P. Ryan, der nach meinem besten Wissen und Gewissen sehr authentisch ist und meistens auch gut sitzt. Du wirst Dir also diesen oder einen ähnlichen Schnitt besorgen müssen; ich kann hier nur die Erklärung liefern, die der Schnitt nur auf Englisch oder gar nicht bringt.
Die Schnittaufstellung (vergrößerbar) sieht so aus**:
Wie ersichtlich, haben wir es hier mit fünf Schnitteilen pro Seite zu tun. Das kann im Vergleich mit dem zweiteiligen Schnitt eventuelle Änderungen erleichtern, indem die Zugaben bzw. Abnahmen der Weite besser verteilt werden können. Andererseits ist es schwieriger, einen Ausgleich zu schaffen, falls die Schnitteile für Basis, Oberstoff und Futter nicht exakt gleich geschnitten sind. Man muß beim zuschneiden und nähen also sehr genau arbeiten, damit nachher die Nahtlinien genau aufeinander zu liegen kommen, ohne daß eine Lage beutelt oder gespannt werden muß. So etwas kann einem die ganze Arbeit versauen.
Die Teile für vordere und hintere Mitte werden aus Basisstoff je zweimal im Stoffbruch zugeschnitten, alle anderen viermal ohne Bruch. Zugaben gibt es immer nur an den Seitenkanten, wo das nächste Schnitteil angesetzt wird. Die Zaddeln sollten noch nicht aufgeschnitten werden, und selbst mit den im Schnitt eingezeichneten Rundungen wäre ich noch vorsichtig: Manchmal kriegt man noch einen Stab mehr unter, wenn man den Schlitz ein klein bißchen verschiebt. Zeichne Dir aber schon mal an, wo die Zaddeln sein werden. An den ersten zwei Nähten (von der vorderen Mitte aus gezählt) sind noch keine Schlitze; der erste Schlitz ist etwa in der Mitte des dritten Schnitteils.
Wie beim zweiteiligen Korsett solltest Du Dir nun überlegen, ob Du nur Rückenschnürung oder Vorder- und Rückenschnürung willst. Wenn Du vorn keine Schnürung willst, mußt du die beiden Teile für die vordere Mitte auseinanderklappen, aufeinanderlegen und aufeinanderheften. Überall da, wo eine Schürung sein soll, werden die Schnitteile gefaltet gelassen, genau wie beim zweiteiligen Korsett. Bei den anderen Teilen werden je zwei Lagen werden wie eine behandelt und auch zusammengeheftet. Dann geht's gleich ans zusammennähen der Teile. Die Nahtzugaben werden nicht auseinander, sondern zur Seite gebügelt.
Und weil wir ja diesmal sichtbare Tunnel nähen, wird auch gleich der Oberstoff zugeschnitten, und zwar alle Teile zweimal. Ausnahme: Wenn du auf die Vorderschnürung verzichtest, das mittlere Vorderteil nur einmal im Bruch. Laß an den Schnürkanten ca. 2-3 cm Zugabe stehen und natürlich an den Seitenkanten die Nahtzugabe wie bei der Basis. Es ist sinnvoll, an allen anderen Kanten ebenfalls einen Zentimeter zuzugeben. Durch die ausgiebige Handhabung beim Tunnelnähen werden nämlich v.a. seidene Oberstoffe immer mehr ausfransen, so daß ohne Zugabe irgendwann der Basisstoff halb im Freien stünde. Je schmaler das Versäuberungsband ist, desto schwieriger ist es, das noch zu verdecken. Diese kleinen Zugaben sind also keine Nahtzugaben, sondern Ausfrans-Zugaben.
Wenn die Nahtzugaben plattgebügelt sind wieder zur Seite, aber andersrum als bei der Basis , wird der Oberstoff aufgelegt, glattgestrichen und an Nahtlinien entlang aufeinandergesteckt. Achte darauf, daß die Nähte von Oberstoff und Basis genau aufeinanderliegen. Wenn nun eine der Lagen so sehr beutelt, daß sich das nicht durch leichtes dehnen der anderen Lage ausgleichen läßt, muß das durch neue Nähte ausgeglichen werden. Dann werden die Lagen an den Nahtlinien und Kanten entlang aufeinander festgeheftet. An den Schnürkanten wird die große Zugabe auf die Innenseite umgelegt und festgeheftet. Dann nähen wir gleich die ersten Tunnelnähte, nämlich genau in den Verbindungsnähten. Mit den restlichen Tunnelnähten solltest Du an den Schnürkanten anfangen: Die erste Naht bildet den Tunnel für den Stab direkt an der Kante, dann eine 10 mm breite Lücke für die Schnürösen, und dann immer gleich breit parallel bis zur nächsten Verbindungsnaht. Wie man die Tunnel macht, ist in der grundlegenden Anleitung beschrieben.
In den hinteren zwei Schnitteilen macht man die Tunnel parallel zu der Verbindungsnaht, die der hinteren Mitte am nächsten ist, ansonsten parallel zu derjenigen, die der vorderen Mitte am nächsten ist. Wenn die Schnitteile oben breiter sind als unten, werden die äußersten Tunnel immer kürzer, je näher man der Verbindungsnaht kommt. In dem einen Teil, das unten breiter ist, müssen diese kürzeren Stäbe von unten eingeschoben werden. Paß auf die Zaddelschlitze auf: Die Tunnel müssen mindestens 5mm Abstand halten, oben und seitlich. Paßt ein Stab nicht mehr in die Zaddel hinein, laß ihn 1 cm oberhalb des Schlitzes enden.
Das Bild links (vergrößerbar) zeigt, wie die Stäbe bei Vorder- und Rückenschnürung liegen. Die Lösung für reine Rückenschnürung ist in der Schnittübersicht weiter oben zu sehen.
Die Tunnel kann man mit Rückstich nähen, und "damals" hat man es wohl auch so gemacht. Das erhöht aber den Verbrauch an Nähgarn ungemein - die Mengenangabe weiter oben bezieht sich auf die weniger arbeitsintensive Mogelvariante: Erst mit Vorstich in eine Richtung nähen, dann die Lücken zwischen den Stichen auf dem Rückweg füllen. Die Stiche sollten maximal 4 mm lang und möglichst gleichmäßig sein. Näht man die Tunnel mit Rückstich, ist mit einem ungefähr 50% höheren Verbrauch an Garn zu rechnen.
Besonders bei glatten, dünnen Oberstoffen (also v.a. Seide) wird der Oberstoff durch die Nähte etwas puckern. Das ist aber kein Grund zur Sorge: Wenn die Stäbe eingeführt werden, glättet sich das wieder. Die Stäbe müssen 5 mm vor der Stoffkante enden, besser noch etwas mehr. Lege jeweils eine kräftige Naht in eben diesem Abstand an den oberen und unteren Stoffkanten entlang, um die Tunnel zu verschließen.
Nun wird das Futter zugeschnitten, zusammengenäht, glatt aufgelegt (ebenso wie beim Oberstoff) und an den Kanten entlang festgeheftet. Wieder wird die Nahtzugabe in die entgegengesetzte Richtung zu der in der Basis gebügelt. An den Schnürkanten wird das Futter nach hinten weggefaltet und mit Saumstich angenäht. Wenn der nach innen umgelegte Oberstoff noch an den Schnürösen vorbeireicht, nähe das Futter dort an, so daß Du beim bohren der Ösen nicht auch noch durch das Futter durch mußt. Es ist auch so schon anstrengend genug. Schneide dann die Zaddelschlitze ein, die Zaddelenden rund und alles ab, was an Oberstoff und Futter übersteht. Dann versäubern und Ösen machen wie im Grundteil beschrieben, und voilà...
Teil 6: Anpassen des (zweiteiligen) Schnittes
*) Siehe Historische
Nähtechnik
**) J.P. Ryan hat mir freundlicherweise erlaubt, ihre Schnittübersicht
als Vorlage zu benutzen.