Die Herstellung eines Rokoko-Korsetts
auch als Leibstück oder Schnürbrust bekannt

 

 

Im 18. Jahrhundert sprach man eigentlich noch gar nicht von Korsetts, sondern von Leibstücken (Liselotte von der Pfalz, um 1715), Schnürleibern oder Schnürbrüsten (Journal des Luxus und der Moden, 1780er). Das habe ich schon auf zwei Seiten des Glossars dargelegt, nämlich hier und hier. Ich verwende den Begriff trotzdem manchmal aus Gewohnheit, obwohl ich eigentlich versuche, die figurverändernden Teile der weiblichen Unterkleidung begrifflich sauber in "Korsett für 19. Jh." und "Schnürbrust fürs 18. Jh." zu trennen.

Zuerst noch einige wichtige Worte:

Die folgende Anleitung ist das Ergebnis meiner ersten Versuche der Schnürbrust-Herstellung, d.h. sie ist schon recht alt (der Grundstein dürfte noch im 20. Jh. gelegt worden sein), wurde aber immer wieder um neu gewonnene Erkenntnisse aktualisert. Die hier beschriebenen Techniken habe ich mir damals selbst erarbeiten müssen, weil es sehr viel weniger Infos gab als heute. Amazon? Ebay? Blogs? Vergiß es! Damals mußte man noch in London in einen speziellen Buchladen gehen, um Janet Arnolds Bücher zu finden. Inzwischen habe ich einige originale Schnürbrüste gesehen und z.T. in der Hand gehabt und weiß, daß das hier beschriebene nicht wirklich authentisch ist, nähtechnisch gesehen. Müßte ich diese Anleitung jetzt ganz neu schreiben, sähe sie wahrscheinlich anders aus. Oder vielleicht auch nicht...

Warum haue ich diese Anleitung dann nicht zum Teufel? Weil eine Schnürbrust die Grundlage jeder Frauenkleidung des 18. Jh. ist. Es muß daher möglich sein, mit relativ (!) wenig Aufwand eine Schnürbrust herzustellen, um die Oberkleidung darauf anzupassen, selbst wenn man keinen Wert auf die authentische Verarbeitung nicht sichtbarer Teile legt. Und auch diejenigen, die Wert auf eine authentische Verarbeitung legen, müssen erstmal mit der Paßform experimentieren, bevor sie sich die Arbeit mit handgenähten Stabtunneln machen. Daher geht die Anleitung davon aus, daß Du - wie ich damals - zum ersten Mal eine Schnürbrust machst und daher nicht in jeder Hinsicht authentisch arbeiten willst, weil es (a) erstmal nur ein Test ist und/oder (b) Du mit der Konstruktion an sich schon vollauf zu tun hast oder (c) scheiß auf die Authentik, solange nur die richtige Körperform dabei rauskommt.

Der hier vorgestellte Schnitt ist daher bewußt ein eher einfacher, d.h. er ist einfach zu schneiden, relativ (!) leicht in der Größe anzupassen, kann recht schnell mit der Maschine zusammengeschustert werden und braucht relativ wenig Material, vor allem in bezug auf die am schwersten zu beschaffende Komponente, das Fischbein. Die Größe des Schnittes, und damit auch alle Schätzungen für Stoffverbrauch und die notwendige Anzahl/Stärke der Fischbeinstäbe, basiert auf meiner damaligen Konfektionsgröße. Auch da habe ich aktualisiert, aber bei kleinen Größen kann ich leider nur raten.

Und ganz wichtig: Erfahrung mit (modernem) Nähen und Näh-Begriffen wird vorausgesetzt. Ahnung vom Anpassen von Schnitten ist von Vorteil. Völlige Nähanfänger müssen mit Verzweiflung rechnen.

Falls die Grundlagen des Schnürbrust-Nähens für Dich keine Schrecken mehr bereithalten, gehe nicht über Los sondern gleich hierher, da gibt's die unverfälschten Details einer erhaltenen Schnürbrust. Fünftes Lehrjahr sozusagen.

Lies bitte die ganze Anleitung, bevor du zu schneiden anfängst. Besser noch, vor dem Stoffeinkauf. Und, ganz wichtig: Wenn Du über etwas stolperst, das unverständlich ist, dann sag mir bescheid. Ich habe mir zwar alle Mühe gegeben, aber ich kann nicht einmal erahnen, wie brauchbar meine Beschreibungen sind, wenn mir niemand Feedback gibt.

Die folgende Anleitung ergibt eine halbsteife (demi-baleiné) Schnürbrust. In Kapitel 5 wird die vollsteife Variante beschrieben, die auf einem Kaufschnitt basiert und das Verständnis von Kapitel 1-4 voraussetzt. Im letzten Kapitel wird beschrieben, wie man den Schnitt individuell anpassen kann, aber dafür ist eine vorhandene Probe-Schnürbrust Voraussetzung.

Eine Sache sollte ich unbedingt noch erwähnen: Historische Kleidung ist kein Ponyhof. Schnürbrüste und Korsetts erst recht nicht. Ob die Schnittanpassungen korrekt waren, kann man erst beurteilen, wenn man alle Stäbe eingeschoben und Schnürösen gemacht hat, denn nur dann liefert eine Anprobe das richtige Ergebnis - aber dann ist die Schnürbrust eigentlich schon fast fertig. Deshalb gilt für Schnürbrüste und Korsetts der gleiche Spruch wie fürs Häuslebauen: Man muß es mindestens dreimal machen, einmal für einen Feind, einmal für einen Freund und einmal für sich selber. Ich glaube, es ist noch niemand ohne mindestens einen Prototyp ausgekommen. Hinweise, um zu beurteilen, ob das Probeteil richtig sitzt bzw. was falsch ist, findest Du unter Teil 6: Schnittanpassung.