Herstellung einer Taille

Teil 1: Material

 

Über das Material für den Oberstoff etwas zu sagen, ist ziemlich schwierig, da zu der betrachteten Zeit, also 1870-1910, eine riesige Fülle an Möglichkeiten bestand. Es gab nicht nur eine große Bandbreite an Faser- und Webarten, sondern auch an Farben und Mustern. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Anilinfarben erfunden worden und führten zu einer wahren Explosion der Farbigkeit. Ab 1885 kamen die ersten Kunstseiden hinzu, aber wahrscheinlich dauerte es bis 1900 oder länger, bis sie für Kleidung verwendet wurden. Um die Sache noch schwieriger zu machen, wurde immer schärfer zwischen Haus-, Nachmittags-, Diner-, Gesellschafts- und Balltoiletten unterschieden, mit denen jeweils unterschiedliche Stoffarten und Farben assoziiert waren.

Eine auch nur halbwegs erschöpfende Besprechung der Stoffarten und -farben würde den Rahmen dieser Anleitung sprengen. Vor allem, da der Zeitrahmen mehrere Jahrzehnte beträgt, während derer die Moden alle Naslang wechselten. Womöglich blieben Grundschnitt und Technik nur deshalb so lange gleich, weil sich die Mode bei den Stoffen und Verzierungen hinreichend austoben konnte. Schau am besten möglichst viele Modekupfer an, um zu sehen, welche Möglichkeiten der Kombination von Farben und Stoffarten es für die Zeit gibt, auf die Du abzielst. Einige Hinweise finden sich auch auf der Seite über Anzugplanung. Diese Anleitung behandelt, wie gesagt, exemplarisch eine Taille von ca. 1883-86.

Beim Futterstoff wird es dann wieder einfacher. Anders als heute sollte das Futter nicht verhindern, daß der Oberstoff an der Unterwäsche klebt, sondern es gab der Taille ihre Form, wie es das Skelett für einen Körper tut. Daher ist beim Futter nicht so sehr Rutschigkeit gefragt, sondern Stand: Der Oberstoff ist, ähnlich wie beim Rock, meist nur eine hübsche Fassade, die formlos in sich zusammenfiele, wenn das Futter nicht wäre. Manchmal wird der Oberstoff sogar nur, duftig gerafft, auf die Grundform des Futters aufdrapiert - das ist dann eine Blusentaille. Allzu schwer sollte das Futter aber auch nicht sein, und auftragen sollte es erst recht nicht.

Die zeitgenössische Literatur (Lechner/Beeg) empfiehlt für leichte Oberstoffe ein vollflächiges Futter aus Seidengaze, während festere Stoffe bis auf einen breiten Streifen am Saum ungefüttert bleiben können. Das widerspricht allerdings dem, was ich bisher an erhaltenen Stücken fand: Dort wurden ausschließlich einfarbige, glatte Baumwollstoffe in hellen und neutralen Farben (Creme, Sand, Hellbraun) verwendet, am häufigsten Chintz, aber auch leichter Köper.

Nähgarn: Seide sollte mit Seidengarn genäht werden, Baumwolle mit Baumwollgarn, Wolle mit Leinen- oder Baumwollgarn. Da die Nähmaschine während der betrachteten Zeit bereits weit verbreitet war, darf sie für alle Nähte verwendet werden. Manche Nähte aber wurden noch immer mit Hand gemacht. 200 Meter müßten reichen.

Taillenstäbe: Die beiden Brustabnäher und die Seitennaht wurden mit Fischbeinstäben versteift. Als Ersatz dient heute Plastikfischbein in 6-8 mm Breite und maximal 1 mm Dicke. Metallstäbe wären zu starr; Stahlspiralen kenne ich weder von Originalen noch aus den Büchern. Die genaue Länge der Stäbe ist von der Länge der Taille abhängig. Für 1883-86 und mittlere Körpergröße braucht man 2x25 und 4x22 cm. Für lange Taillen wie um 1877-1882 müssen die Stäbe länger sein, und für Perioden ohne Tournüre braucht man fünf weitere Stäbe von je ca. 20 cm, die auf die Nähte im Rückenteil gesetzt werden. Die Stäbe wurden zuerst in Stofftunnel gesteckt und der Tunnel dann aufgenäht, also braucht man Stoffstreifen oder -bänder, die etwas breiter sind als die Stäbe.

Versäuberung: Je nach Oberstoff empfehlen sich verschiedene Versäuberungsmethoden. Bei stark fransenden Oberstoffen wurden teilweise Seidenbänder von ca. 10-14 mm Breite um die Kanten herumgenäht. Zwei Meter sollten reichen, es geht aber auch ohne.

Verschluß: Je nach Stil und Dekade bis zu 30 Paar Haken & Ösen oder 14-18 Knöpfe, für späte (nach 1900) Modelle auch Druckknöpfe bzw. Kombinationen aus Hakn/Ösen und Druckknöpfen. Für Knöpfe eignet sich Plastik natürlich nicht. Wenn Knöpfe, dann sollten sie meist nicht sonderlich auffallen, also sind in Kleidfarbe umhäkelte, umsponnene und bezogene Knöpfe immer eine gute Wahl. Für Knopflöcher empfiehlt sich Knopflochseide in Kleidfarbe. Eine 10-Meter-Rolle reicht für gewöhnlich.

Außerdem: Ein Stück steifen Stoffes für die Zwischenlage des Stehkragens, ein Taillenband (2,5-3,5 cm breit, Länge=Taillenumfang plus 8) sowie 2 Paar Haken & Ösen als Verschluß desselben. Historisch benutzte man dafür Halbseidenköper, Rips oder Moiré, aber das alles ist heute nicht erhältlich. Als Ersatz eignen sich alle nicht dehnbaren Leinen- oder Baumwollbänder entsprechender Breite.
Eine beliebige Menge Pfuistoff für Probeschnitte, mindestens aber 100x150 cm.

Helfer wirst Du immer dann brauchen, wenn es um eine Anprobe geht. Zwar kann eine auf Deine Korsettmaße modellierte Schneiderpuppe helfen, aber für einen richtig guten Sitz, wie er für Gründer-Taillen unerläßlich ist, reicht das nicht. Um richtig gut abstecken zu können, sollte der Helfer wirklich Ahnung haben.

 

Teil 2: Probestück und Anprobe