Spitze entwickelte sich im 15. und 16. Jahrhundert aus Weißstickerei, bei der der Grundstoff zwischen den bestickten Stellen herausgeschnitten wurde. Die herausgeschnittenen Stellen wurden mit diagonalen oder sternförmigen Stegen gefüllt und diese wiederum in Knopflochstich umstickt - so entstand die Reticella, deren geometrisches Muster noch deutlich auf die rechtwinklige Struktur des Grundstoffes hinweist. Allmählich wurde die Stickerei immer feiner, bis eigentlich kaum noch etwas vom Grundstoff übrig war.
Dann dienten statt des Grundstoffes auf Pergament oder Karton aufgespannte Fäden als Grundlage, die ebenso umstickt wurden wie zuvor die Fäden des Grundstoffes, nur daß man a) nichts mehr wegschneiden mußte und b) die Fäden beliebig aufgespannt werden konnten, nicht nur in rechten Winkeln. Die Übergangsform zwischen Reticella und Nadelspitze im engeren Sinn nannte man Punto in Aria, "Stickerei in der Luft".
Bald löste sich die Nadelspitze denn auch mustermäßig vom Gitter und entwickelte gewundene Ranken- und Blumenformen, verbunden durch Stege mit Picots (kleinen Knötchen) darauf. Flächen wurden gebildet, indem man Fäden über die Leere hinweg spannte und diese umstickte. Zusätzlich wurden dickere Fäden auf manche Stellen aufgelegt und überstickt, um eine plastische Oberfläche zu erreichen. Diese Spitzenform wurde zuerst in Venedig gepflegt (Point de Venise) und bald in Frankreich nachgeahmt (Point de France, Point de Neige, Rose Point). Die Fäden sind dabei oft weitaus feiner als alles, was man heute an Garn kaufen kann. Betrachtet man heute eine Nadelspitze des 17. oder 18. Jahrhunderts, erscheint es unmöglich, daß irgend jemand diese feinen Kunstwerke ohne Lupenlampe hat schaffen können. Mit Sicherheit waren dafür eine sehr ruhige Hand, gute Augen und viel Licht nötig. Die Arbeit konnte also nur tagsüber ausgeführt werden, und auch nur an hellen Tagen: Diejenigen, die solche Spitzen in Heimarbeit herstellten, waren eben nicht diejenigen, die es sich leisten konnten, in Häusern mit großen Fenstern zu wohnen. Ich habe irgendwo gelesen, daß selbst eine geübte Stickerin für einen halben Meter mehrere Monate brauchte - ich weiß nicht mehr, wieviele. Zwar war Arbeit damals nicht viel wert, aber in diesem Fall läpperte es sich doch, so daß Nadelspitze ein echter Luxusartikel war, den nur wenige bezahlen konnten.
Etwa zur gleichen Zeit, also gegen Ende des 17. Jh., entwickelten sich Klöppelspitzen, wohl aus einer makraméeartigen Knottechnik. Die Klöppeltechnik ist weniger aufwendig, schneller und erfordert weniger genaues Hinschauen als Nadelspitze: Ein geübte Klöpplerin wirft die Klöppel fast beiläufig herum, ähnlich wie heute manche beim Fernsehen stricken können. Folglich ist Klöppelspitze billiger, und man sieht ja oft, daß etwas teures und begehrtes auf billigere Weise nachgeahmt wird, weil auch weniger reiche an dem Luxus teilhaben wollen. Spitze ist ein Paradebeispiel für die Tröpfeltheorie. So ahmen denn auch die frühen Klöppelspitzen häufig Nadelspitzen nach, so daß man sie auf Portraits meistens nicht von Nadelspitzen unterscheiden kann. Erst im frühen 18. Jh. entwickelte die Klöppelspitze eigenständige Muster und damit die zwei Grundarten der Klöppelspitze: Zuerst flächig gemusterte Varianten wie Argentan und Alençon, etwas später Netzgrundspitzen wie Valenciennes und Malines. Letztere wurden im Verlauf des Jahrhunderts immer "luftiger", d.h. mit mehr Netz- als Musteranteil und dünnerem Netz. Netzgrundspitzen sind in der Herstellung noch etwas einfacher als flächige, was vielleicht auch ein Grund für ihre zunehmende Beliebtheit im 18. Jh. war: Sie erlaubte es wohlhabenden (aber nicht reichen) Bürgern und Landadeligen, sich auch mit Spitzen zu schmücken. Trotzdem verblüffen auch die alten Tüll-Klöppelspitzen durch ihre Feinheit, die man heute schon allein deshalb nicht nachahmen könnte, weil es solch feine Fäden nicht mehr gibt. Aber nicht nur der Preis spielte eine Rolle: Die tendenziell schweren, steifen Nadelspitzen hatten gut zum steif-abgezirkelt-pompösen Barock gepaßt, doch im frühen 18. Jh. kam das Rokoko auf, das ganz allgemein eine Vorliebe für das Verspielte, Feine und Duftige hatte.
Möglicherweise war es der Nachahmungswille minder reicher Leute, der zur Entwicklung einer weiteren Spitzenart im 18. Jh. führte, nämlich der Weißstickereispitze. Wer sich keine Spitze für Ärmelrüschen oder Jabot leisten konnte, ersetzte sie durch feinen Batist. Damit er nicht gar so schmucklos aussah, wurde er mit weißen Fäden bestickt. Diese Technik, die wohlgemerkt keine optische Ähnlichkeit mit der heute gebräuchlichen Weißstickereispitze hat, wurde in ihrer verfeinerten Form als Dresdner Spitze (französisch Point de Dresde oder Point de Saxe) bekannt, über die Grenzen Deutschlands hinaus beliebt - und ziemlich teuer.
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich mit neuen Handarbeitstechniken auch neue Spitzenarten (Occhi- und Häkelspitze), während die Klöppelspitze, v.a. die Netzgrundspitze, weiterhin gepflegt und auch weiterentwickelt wurde (z.B. Honiton). Das frühe 19. Jh. war, was die Nachfrage nach Spitzen betraf, eine rechte Durststrecke - sie waren einfach nicht en vogue -, aber mit dem Biedermeier und v.a. der Romantik ging es wieder bergauf. In Irland besserten geschickte Frauen der Unterschicht das Einkommen mit extrem feinen Häkelspitzen (Irish crochet, Guipure) auf, die Nadelspitzen so täuschend echt nachahmten, daß man eine Lupe braucht, um Original und Fälschung zu unterscheiden. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts klaute der Historismus sich Anregungen aus allen Epochen zwischen Renaissance und Rokoko, so daß Reticella, Nadelspitze und Netzgrund-Klöppelspitze eine kurze, aber geballte Renaissance erlebten. Gut betuchte Frauen, die nichts zu tun hatten als die Dienstboten zu beaufsichtigen, widmeten sich, angeregt durch Modejournale, dekorativen Handarbeiten wie Occhi- und Lochspitze zum Eigengebrauch. Letztere gehört, wie Dresdner Spitze, zum Dunstkreis der Weißstickerei, aber anders als bei jener geht es bei dieser darum, mit Ahlen Löcher verschiedener Größe in den Stoff zu bohren und die Ränder derselben zu umsticken.
Im frühen 20. Jh. wurde einerseits Arbeit immer teurer, andererseits konnte vieles - v.a. Klöppel- und Lochspitze - maschinell hergestellt werden. Gleichzeitig wurde Berufstätigkeit von Frauen gesellschaftlich immer mehr akzeptiert und durch den 1. Weltkrieg sogar zur Notwendigkeit. Im 19. Jh. hatte es noch als fein gegolten, wenn die Frau im Hause keine produktive Arbeit verrichten mußte (vgl. Veblen; dekorative Handarbeit galt als nicht produktiv), aber das verblaßte allmählich. Obendrein konnten sich - eben weil Arbeit teurer wurde - immer weniger Leute Dienstboten leisten, so daß die Hausherrin zur selbst kochenden und putzenden Hausfrau wurde, während jene, die früher in Heimarbeit Spitzen hergestellt hätten, nun in Fabriken arbeiteten. Das alles führte zu einem rapiden Niedergang der Spitzenherstellung. Handgefertigte Spitzen waren immer seltener zu kaufen, und was die Hausfrauen in ihrer weniger gewordenen Freizeit fertigten, war im Vergleich zu früheren Epochen grob wie ein Hackklotz. Die Klöppelei wurde in gewissen Gebieten wie dem Erzgebirge, Brüssel und Brügge aus reinem Traditionsbewußstein bis heute aufrechterhalten, aber die Nadelspitze war schon Anfang des 20. Jh. fast ausgestoben. Hätte Thérèse de Dillmont sie nicht um die Jahrhundertwende für ihre Encyklopädie der weiblichen Handarbeiten recherchiert, wüßte wahrscheinlich heute niemand mehr, wie sie gefertigt wurde.
Erst kürzlich hatte ich eine ca. 4-6 cm breite Mailänder Spitze in der Hand, an der noch der Preiszettel aus der Zeit um 1900 pappte: Ein Hausmädchen hätte damals drei Jahreslöhne dafür ausgeben müssen. Mich hätte diese Spitze gerade mal 5% eines Nettomonatslohns gekostet. Dies nur, um zu illustrieren, wie astronomisch teuer Spitze früher mal war (und folglich nur für die sehr wohlhabenden vefügbar) und wie relativ billig antike Spitze heute ist, auch wenn uns 30 Euronen pro Meter teuer erscheinen.
Abgesehen von der Grobeinteilung nach der Technik (Nadel-, Klöppel-, Häkelspitze etc.) werden Spitzen nach der Herkunft* oder dem Muster klassifiziert, z.B. bei Nadelspitze in Point de Venise, Gros Point (beide venezianisch), Point de France, Point de Neige, Rose Point (alles frz. Nachahmungen/Weiterentwicklungen der venezianischen Nadelspitze) und bei Klöppelspitze in Mecheln, Brügge, Brüssel, Alençon, Argentan, Honiton etc.
Bücher, in denen man dieses nachlesen kann, gibt es zuhauf. Ich möchte hier aber eine andere Klassifikation versuchen, nämlich 1. nach Technik und 2. nach Stil und wann dieser in Mode war. Die "normale" Klassifizierung ist für Sammler interessanter, diese hier für Re-enactors und Kostümbildner. Die Bilderseite ist danach aufgebaut.
Die jeweils genannten Zeiten beziehen sich darauf, ab wann eine Spitzenart in Gebrauch bzw. wann sie in Mode war. Die meisten Typen wurden aber auch danach noch hergestellt und erfreuten sich unterschiedlicher Beliebtheit.
*) Nicht unbedingt danach, wo die Spitze hergestellt wurde, sondern danach, wo das Muster entstand, auch wenn das meistens dasselbe war - theoretisch konnte Point de Venise auch außerhalb Venedigs gefertigt werden.
Wednesday, 24-Apr-2013 21:20:21 CEST